Sonntag, 12. November 2023

"Heute Nachmittag Café Klostertor?"

Liebe Leserinnen und Leser,

"Heute Nachmittag Café Klostertor?", war die Reaktion meiner Schulleitung, als ich ihr in dieser Woche frustriert und wütend vom Stand des Antrags auf Schulbegleitung für ein Kind unserer Schule berichtete.

Zutaten für Mohn-Marzipan-Eis

Wie Sie wissen, liebe Leserinnen und Leser, beschäftige ich mich schon sehr lange mit inklusiver Bildung. Und ja, im Moment sogar aus der Sicht eines sächsischen Gymnasiums (auch diese arbeiten z. T. inklusiv). In dieser Woche habe ich mich (wieder) gefragt/ fragen müssen: 

- Wieso werden ambulante Unterstützungsleistungen wie Schulbegleitungen an inklusiven Schulen immer wieder eher in Frage gestellt als Unterstützungsleistungen an (stationären) Sondereinrichtungen?

- Wann hören wir endlich damit auf, Ergebnisse von Momentaufnahmen einer einmaligen Hospitation über die einer prozesshaften Begleitung zu stellen?

Wieso lernen wir nicht von unseren Nachbarn in Europa und anderswo in der Welt, in denen es viel mehr Sonderpädagogen, Schulbegleiter und auch pflegerisches Personal an inklusiven (Regel-)Schulen für alle gibt, um flexibler auf Unterstützungsbedarf reagieren zu können?

- Weshalb werden Schulen, die Inklusion wirklich wollen, so im Regen stehen gelassen? (Diese Frage gilt übrigens auch für Arbeitgeber, die inklusiv arbeiten wollen.)

- Wieso hängt es auch 2023 noch vom rechtlichen Durchhaltevermögen der Eltern behinderter Kinder ab, ob ihnen die gleichen Bildungschancen eröffnet werden wie nichtbehinderten Kindern auch?

Oft führen diese Eltern und deren Kinder irgendwann selbst, wenn sie können, einen lebenslangen Kampf um inklusive Bildung und Arbeit. Zuletzt gelesen habe ich darüber bei meiner Blogger-Kollegin Mareike Fusz in dieser Woche. Sie berichtet dort über den 9-jährigen (!) Kampf um einen Platz auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt.

Und hier - in einer der modernsten Schulen Sachsens - wie reagiert da der Landkreis auf einen Antrag auf Schulbegleitung?

"Wenn das Schreibtempo ein Problem ist, muss das Kind eben auf eine andere Schule." - Weil dann das Schreibtempo höher wird?!? Oder weil dann die Beeinträchtigung nicht mehr da ist?!?

"Das Kind scheint sozial gut integriert zu sein, da braucht es keinen Schulbegleiter." Was hat das mit der Beeinträchtigung und der schulischen Leistung zu tun?!? Hätten wir das Kind lieber ausgrenzen sollen?!?

Lebenslange, gemeinsame Bildung und Arbeit (die Rentenpolitik lasse ich jetzt mal aus), das sollte ohne Kampf möglich und auch kein (Weihnachts-)Wunsch mehr sein, sondern gleiches Recht.

Darauf ein Mohn-Marzipan-Eis im Café Klostertor!

Sonntag, 20. August 2023

Um was geht es hier eigentlich? oder "Wer Inklusion will, findet Wege. Wer nicht, Begründungen."

Liebe Leserinnen und Leser,

in dieser Woche war Vorbereitungswoche. Morgen beginnt das Schuljahr 2023/2024.

Also Zeit für uns Pädagoginnen und Pädagogen für Vorbereitung und gegenseitige Fortbildung. Deshalb habe ich gemeinsam mit einer Kollegin über unsere Fortbildung via Erasmus+ in Nizza berichtet: "Designing Inclusive Learning Environments to Support all Students" (Inklusive Lernumgebungen schaffen, um alle Schüler zu unterstützen).

Ein Bild, das ich dabei nutzte, war dieses:


Das Bild zeigt drei unterschiedlich große Menschen, die hinter einer Absperrung stehen, um ein Ballspiel zu sehen. Alle drei bekommen denselben Kasten, auf dem sie stehen können. Dabei sieht der Kleinste immer noch nichts. Nur wenn der größte Mensch seinen Kasten an den kleinsten abgibt, kann der körperlich Kleinste auch etwas sehen. Im dritten Bild ist die Absperrung durch ein Netz ersetzt und alle können das Spiel sehen. Überschrieben ist dieses Bild mit "Gerechtigkeit".

Soll heißen, wenn ich Ungleiches gleich behandele, verstärke ich die Ungleichheit. Deshalb meint Inklusion eben nicht Gleichmacherei oder "Gleichschaltung", sondern Menschen mit ihren individuellen Bedürfnissen zu fördern und gleichberechtigt einzubeziehen. Das sollte in der Bildung so sein, aber auch in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen.

Wie weit wir hier in Deutschland, in Sachsen und in Kamenz noch davon entfernt sind, ist auch im Parallelbericht des Deutschen Instituts für Menschenrechte nachzulesen, der in diesen Tagen erschienen ist. Hintergrund ist, dass Ende August 2023 in Genf Deutschland (so wie alle anderen Länder auch, die Menschenrechtskonventionen unterschrieben haben) überprüft wird, wie die Anforderungen der Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Behindertenrechtskonvention) umgesetzt werden.


Blaues Logo der Vereinten Nationen: eine Weltkugel mit einem Kranz umschlossen

Ich fasse es mal so zusammen:

Dabei wird das Institut in seiner Wortwahl, z. B. für den Bereich Bildung sehr deutlich:

  • Immer noch geht die Mehrheit der Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf auf Sonderschulen. 
  • Der vorbehaltlose Rechtsanspruch auf inklusive Bildung fehlt (auch in Sachsen) immer noch. 
  • Nach wie vor werden in Deutschland Sonderpädagog*innen für Förderschulen ausgebildet, statt gezielt Lehrkräfte für Inklusion an Regelschulen auszubilden. Auch allgemeinbildende Lehrkräfte werden noch nicht verpflichtend inklusionspädagogisch aus- und fortgebildet. 
  • Förderschulen werden darüber hinaus als vermeintlicher Teil eines inklusiven Systems behandelt und mit dem Elternwahlrecht auf diese Schulform gerechtfertigt. 
  • In Deutschland herrscht in der Politik und in weiten Teilen der Gesellschaft ein verfehltes Inklusionsverständnis.
 Nach Auffassung des Instituts gilt das auch für die kulturelle Teilhabe:

"Der allgemeine Kunst- und Kulturbetrieb ist trotz seiner Bedeutung für eine inklusive Gesellschaft und für die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen nach wie vor stark exklusiv."

Leider trifft diese Aussage auch auf das Kamenzer Forstfest, Sachsens größtes Schul- und Heimatfest, zu. Highlight ist der Festzug der 1600 Kamenzer Schülerinnen und Schüler mit ihren Lehrerinnen und Lehrern. An diesem Festzug nehmen keine Schülerinnen und Schüler aus Förderschulen teil und die Begründungen dafür klingen so:

"Wir durften in der DDR nicht mitmachen, also dann machen wir jetzt auch nicht mit." (Sollen das Schüler sein, die seit 34 Jahren in die Schule gehen oder wer sagt so etwas?)

"Wir haben in den 60ern das Mitmachen versucht. Es hat nicht geklappt." (Das müsste dann ein Lehrer mit 60 Jahren Berufserfahrung sein?! Und außerdem gab es in den 60ern allenfalls Hilfsschulen, körperbehinderte Kinder wurden im Krankenhaus unterrichtet.)

"Die wollen ja nicht." Naja, liebes Forstfestkomitee, wie ich es am Anfang schon sagte: Alle gleich zu behandeln, verstärkt die Ungleichheit. Seid Ihr schon mal auf Schüler, Eltern und Lehrer zugegangen und habt so etwas gefragt wie:

"Wir wollen alle Kamenzer Schülerinnen und Schüler dabei haben. Ihr gehört auch dazu. Was braucht ihr, um teilzunehmen?" 

Wahrscheinlich nicht. Denn dann müsste man sich Gedanken machen über Assistenzkräfte, Hol- und Bringedienste, barrierefreie Informationen, barrierefreie Anlagen auf dem Festgelände und vielleicht auch die Wegstrecke, die über das Kamenzer Altstadt-Kopfsteinpflaster führt. 

Ich höre sie schon reden: "Das Kopfsteinpflaster ist ja nun mal da. Dann würde das Altstadtflair fehlen."

Wie hört sich das für Sie an? Es erinnert mich an den Satz: "Wer Inklusion will, findet Wege. Wer nicht, Begründungen."

Und ich frage mich an dieser Stelle: Um was geht es hier eigentlich: eine inklusive Gesellschaft oder eine exklusive Veranstaltung?


Samstag, 22. April 2023

Verpasste Chancen und ungenutzte Schätze

Liebe Leserinnen und Leser!

Ich bin gerade dabei, den 7. Bericht zur Lage der Menschen mit Behinderungen im Freistaat Sachsen zu lesen. (Das sind mehr als 500 Seiten!) Und - Überraschung - der Bericht ist noch nicht barrierefrei.

Hier mal ein paar bedenkenswerte Punkte:
"Hinsichtlich des Öffentlichen Personennahverkehrs schreibt das PBefG (Personenbeförderungsgesetz) vor, einen barrierefreien Zugang zum straßengebundenen Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) zum 01.01.2022 umzusetzen. Zurzeit sind in den sächsischen Städten 30 bis 40 % der ÖPNV-Haltestellen barrierefrei gestaltet, im ländlichen Raum dagegen nur 5 %." Hier werden Gesetze ignoriert und es passiert - nichts.

"Bauzeitlich aufgehobene Haltestelle" in Berlin
Aufgehobene Haltestelle - Quelle: privat

"Auch in Bezug auf die inklusive Unterrichtung zeigen sich innerhalb Sachsens große Unterschiede je nach Region: Während in den Landkreisen Leipzig und Nordsachsen mehr als 50 % der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf eine Regelschule besuchen, sind die entsprechenden Anteile in vielen anderen Kreisfreien Städten und Landkreisen deutlich geringer. Am niedrigsten sind sie mit 21 % im Landkreis Görlitz."
Im Landkreis Bautzen sind es 26%, das bedeutet, dass trotz aller schönen Inklusionsreden immer noch 3/4 aller Schüler mit Behinderung bzw. sonderpädagogischem Förderbedarf im Landkreis Bautzen in Sonderschulen unterrichtet werden. Das finde ich besonders schade, weil hier allen Schülerinnen und Schülern, auch und gerade denen ohne Beeinträchtigungen, die Chance genommen wird, Empathie, Sinn für Benachteiligung, Gerechtigkeit, Sensibilität für Barrieren, ein Gefühl für Vielfalt zu entwickeln, für unterschiedliche Bedürfnisse, für Wege, sich abzugrenzen oder auch dazuzugehören.
"Im Jahr 2017 waren von den Personen im erwerbsfähigen Alter (von 18 bis 64 Jahren) ohne Behinderungen in Sachsen 83 % erwerbstätig gegenüber 48 % der Personen mit Behinderungen." Hier liegt ein riesiger ungenutzter Schatz an Erfahrungen und Fähigkeiten brach, die bei weiterer Nicht-Erwerbstätigkeit zu mehr Armut und mehr Exklusion führen (und was beim aktuellen Fachkräfte- und Personalmangel nicht nachzuvollziehen ist).
"Unter anderem wurde ermittelt, dass rund 88 % der Wohnungen, die Menschen mit motorischen Behinderungen derzeit bewohnen, die Kriterien für Barrierefreiheit nicht oder nur teilweise erfüllen." Dabei würde mehr Barrierefreiheit in diesem Bereich zu mehr sozialer Inklusion im ganz normalen Alltag und zur Entlastung der stationären Einrichtungen führen.
"Nur 3% der untersuchten (Arzt-)Praxen erwiesen sich als umfassend barrierefrei in Bezug auf den Zugang zur Praxis, die Gegebenheiten innerhalb der Praxis und die Toiletten.
Neben der baulichen Zugänglichkeit wurden in der Studie auch Schwierigkeiten im Arbeitsablauf oder in der Behandlung untersucht. 36 % der Praxen gaben an, in ihrer täglichen Arbeit keine Barrieren oder Schwierigkeiten zu erleben, bei den verbleibenden Praxen wurden dagegen z. B. Schwierigkeiten bei Krankentransporten, bei der Behandlung von Rollstuhlfahrenden oder von Patientinnen und Patienten mit Sinnesbehinderungen identifiziert." Wenn Gesundheit das höchste Gut ist, das wir Menschen besitzen, dann sind die fehlende Barrierefreiheit von Arztpraxen und Untersuchungsmöbeln sowie fehlende geschulte Assistenz ein echtes Gesundheitsrisiko und im schlimmsten Fall lebenszeitverkürzend.

Die Hamburger Band Station 17 beim Popkultur Festival Berlin 2019 ++ am 22.08.2019 in Berlin (Berlin). (c) Andi Weiland | Gesellschaftsbilder.de
Quelle: Andi Weiland, Gesellschaftsbilder.de


"Bundesweite Daten zeigen, dass kulturelle Veranstaltungen von 86 % der Menschen ohne Beeinträchtigungen und von rund 64 % der Menschen mit Beeinträchtigungen regelmäßig oder gelegentlich besucht werden. Insbesondere der Besuch von den überwiegend frei finanzierten Veranstaltungen wie Kino, Jazz- oder Popkonzerten, Tanzveranstaltungen etc. unterscheidet sich zwischen Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen: Diese Veranstaltungen besuchen rund 77 % der Menschen ohne Beeinträchtigungen und rund 46 % der Menschen mit Beeinträchtigungen."
Wenn ich mal über meine Einladungen zu Bällen, in Restaurants, zu Festen, Märkten, Stadtteiltreffs, Quartierbüros oder Ausstellungen nachdenke, dann sind in der Region Kamenz die Prozentzahlen für Menschen mit Beeinträchtigungen noch deutlich niedriger.
Es bleibt also noch eine Menge zu tun, Schätze zu bergen und Chancen zu nutzen. In Sachsen und in Kamenz.

Montag, 5. September 2022

Wird der Oberbürgermeister mein neuer Arbeitsassistent?

Liebe Leserinnen und Leser, wie die Menschen aus Kamenz und Umgebung in meiner Leserschaft in den letzten 2 Wochen sicher mitbekommen haben, wurde nach 27 Monaten und mit 41 Millionen "eine der modernsten Schulen Sachsens" fertiggestellt.

Das, was ich in diesen mehr als zwei Jahren Ehrenamt erlebt habe, kann man zusammenfassen mit Ignoranz und Unwillen - gepaart mit Unkenntnis. Und das kam so:

Nachdem ich
- mich im September 2020 erstmals bei der Stadt und beim Landkreis nach der Barrierefreiheit des neuen Schulstandortes erkundigt habe
- beim Verkehrskonzept mitdiskutiert habe
- eine Vor-Ort-Begehung zur Busanbindung gemacht habe
- beim Tag der nicht barrierefreien Baustelle vor Ort war
- ich immer wieder beschwichtigt wurde ("Machen Sie sich keine Sorgen, das ist doch ein öffentliches Gebäude, das muss doch barrierefrei sein.")

Parkplatz mit Rillen als Bodenbelag


- mich erneut nach Bordsteinabsenkungen und Zuwegungen erkundigt habe
- in der Schulkonferenz nach der Barrierefreiheit der Eröffnungsveranstaltung gefragt habe ("Ich gehe davon aus.", war die Antwort des Landkreisvertreters.)
- nachdem ich auf die fehlenden Hinweise zur Barrierefreiheit in der Einladung zur Eröffnung hingewiesen habe, konnte ich am 15. August 2022 zum ersten Mal den (einzigen) Fahrstuhl des neuen/alten Gotthold-Ephraim-Lessing-Gymnasiums benutzen und deshalb auch mein künftiges Arbeitszimmer sehen.
Schwelle im Baustellenzustand

Vor meinem Arbeitszimmer entdeckte ich eine Schwelle und ich sagte:
"Die sollte noch entfernt werden."
Die Antwort überraschte mich dann doch:
"Es gibt überall im Altbau Schwellen. Wenn wir sie rausreißen würden, widerspräche das dem Denkmalschutz."
‎Ernsthaft? Eine Schule, die voll ist mit Technik der Neuzeit, in der es keine einzige grüne Tafel mehr gibt, ein öffentliches Gebäude, das der inklusiven Bildung dient, muss Schwellen enthalten, damit der Denkmalschutz gewahrt bleibt?‎Im Sächsischen Denkmalschutzgesetz ist übrigens die Berücksichtigung der Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen in § 1 Abs. (4) festgeschrieben. Außerdem sagt dieses Gesetz in § 12, dass ‎die Bausubstanz nur mit Genehmigung der Denkmalschutzbehörde verändert werden darf. Hat irgendwer überhaupt diesen Antrag gestellt? Und aufgrund welchen Ermessens hat die Denkmalschutzbehörde entschieden?

Die ‎‎Schwelle zur Aula ist übrigens bis heute noch höher als die vor den anderen Räumen, sodass ich die Aula, in die ich am darauffolgenden Sonntag zur Eröffnung eingeladen war, nicht selbstständig betreten konnte.‎

Also bitte ich den Oberbürgermeister, nachdem er und viele weitere Männer mittleren Alters ihre Sonntagsreden gehalten hatten, um Hilfe, um die halbe Stufe zu bewältigen. Und ich sage zu ihm: "Sie sehen selbst, da muss noch eine Rampe nachgerüstet werden." Und auch seine Antwort überraschte mich: "Das ist nicht nötig, Frau Pohl. Wo wir beide das so gut gemeinsam geschafft haben!"

Eingang zur Aula mit ca. 6 cm Schwelle

Was soll ich mit dieser Antwort anfangen? Will der Oberbürgermeister mein Arbeitsassistent werden? Und bei jeder Stufe oder Schwelle, die ich in der neuen, nicht barrierefreien Schule zu bewältigen habe, zur Stelle sein? Oder wäre das Herausnehmen der Schwellen nicht doch die bessere Lösung?

Montag, 11. Juli 2022

Fetschers Förderzentrum

Ein blauer Trabant mit einem schwarzen Bachelor-Hut und dem Motto "TrAbi 2022 - 12 Jahre Lieferzeit"

 Liebe Leserinnen und Leser,

das Schuljahr geht zu Ende und endlich können meine Schülerinnen und Schüler wieder gemeinsam ihre bestandenen Abiturprüfungen feiern - diesmal unter dem Motto: "TrAbi 2022 - 12 Jahre Lieferzeit".

Ein paar Tage zuvor war ich im 11. Jahrgang zur Verteidigung einer Jahresarbeit zum Thema "Euthanasie im Nationalsozialismus" eingeladen. In diesem Zusammenhang sprachen wir auch über das ausgeprägte Separieren im deutschen Schulsystem, das (s)einen Ursprung  im Nationalsozialismus hat. 

Die Elftklässlerin stellte Ihre Arbeit vor Achtklässlern vor und interessant war dabei, dass die Schüler bei der Frage "Welche Erfahrungen habt ihr im Umgang mit Menschen mit Behinderung?" in meinem Beisein mit "Ich kenne keine Menschen mit Behinderung" geantwortet haben.

Beim Abiball  sitze ich dann neben einer Pädagogin und sie erklärt mir erst, dass sie es besonders für körperbehinderte Kinder doch besser fände, wenn diese in der Fischhausstr. (dort befindet sich eine Dresdner Förderschule) betreut würden, weil sie dort einfach die besseren räumlichen Bedingungen hätten (was ja leider tatsächlich der Realität entspricht), z. B. ein Therapiebecken. Andererseits habe ich in den letzten ca. 30 Jahren Berufsausbildung und -tätigkeit noch nie ein Therapiebecken vermisst, fehlende Fahrstühle, Rampen und barrierefreie Toiletten allerdings schon.

Schülerinnen und Schüler mit Autismus könne man aber schon gut integrieren, findet meine Gesprächspartnerin weiter. Aha. Sie würde ihren Schülern (ohne sonderpädagogischen Förderbedarf) stattdessen gern eine Werkstatt für behinderte Menschen zeigen - "Das ist ja wie Zoo", konnte ich mir nicht verkneifen. Meine Gesprächspartnerin lässt sich nicht beirren, weil "man kennt im Alltag einfach keine Menschen mit Behinderung." Deshalb findet sie es auch gut, wenn Schüler ohne Behinderung gemeinsam mit einem Menschen mit Behinderung an einem Lauf teilnehmen. "Wie heißt der Lauf noch?" - "Inklusionslauf", antworte ich.

"Dass die meisten Menschen keinen Menschen mit Behinderung im Alltag kennen, ist doch das eigentliche Problem. Die Lösung wäre das gemeinsame Leben, Lernen und Arbeiten.", versuche ich die Unterhaltung noch irgendwie zu retten. Aber keine Chance.

Zuhause schaue ich mir mal die Webseite der Förderschule für Körperbehinderte genauer an und leider ist alles so, wie ich befürchtet habe: Die Schule nennt sich nicht Schule, sondern Förderzentrum, zum Team und zu den Partnern der Schule gehören Krankenschwestern und Eltern, aber nicht die Agentur für Arbeit, Unterstützte Kommunikation ist ein Thema, aber nicht Unterstützte Beschäftigung oder Persönliche Assistenz.

Und schließlich noch das: Das Förderzentrum für "fröhliche und leistungsfähige KINDER und JUGENDLICHEN mit Besonderheiten in der körperlichen und motorischen Entwicklung und daraus resultierendem erhöhten Sonderpädagogischen Förderbedarf, mit den gleichen Bedürfnissen und Träumen wie ihre Altersgefährten" (Zitat von der Website) trägt den Namen Dr. Rainer Fetscher so wie sich auch das Universitätsklinikum der TU Dresden an der Fetscherstr. befindet.

Mir schwant schon nichts Gutes und Wikipedia liefert tatsächlich diese Informationen über Prof. Dr. Rainer Fetscher: "Nachdem er sich gegen Ende der Weimarer Republik bereits nationalsozialistischen Positionen angenähert hatte, ohne freilich in Einzelfragen wie der sogenannten Mischehe und im radikalen Antisemitismus der NS-Ideologie zu folgen, begrüßte er ausdrücklich das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933."

Hm. Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses war die gesetzliche Grundlage für den massenweisen Mord an Menschen mit seelischen, körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen in den folgenden Monaten und Jahren.

Ob das die Schule und der Stadtrat auch wissen?

Nachtrag vom 13. Juli 2022: Sie wissen es, wie dieser Artikel aus dem Jahre 2007 im Stern beweist.

Samstag, 16. April 2022

Wir wissen, wie es geht - und tun es trotzdem nicht. Oder: Wie schmeckt's?

Liebe Leserinnen und Leser,

derzeit flüchten viele Menschen aus der Ukraine zu uns und wieder stellt sich die Frage, wie Integration gelingen kann.

Eigentlich kennen wir sie schon, die Zutaten für eine schnelle und nachhaltige Integration, z. B.

      • Ansiedlung in prosperierenden Ballungsräumen
      • Arbeitsmarktintegration durch systematische Sprachförderung
      • schnelle Anerkennung beruflicher Abschlüsse
      • umfassende Bildungs- und Weiterbildungsangebote
      • schnelle Aufnahme der Arbeitsvermittlung
      • Integration von Kindern in Bildungs- und Betreuungseinrichtungen
      • gezielte Förderung der Integration geflüchteter Frauen in Arbeitsmarkt, Bildungssystem und Gesellschaft

Das IAB ist das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung Nürnberg.

Jetzt wird es spannend, weil es um eines meiner Lieblingsthemen geht: gemeinsame Bildung. 

  • Dazu sagte Karin Prien, die aktuelle Präsidentin der Kultusministerkonferenz: "Integration ist untrennbar damit verbunden, dass die Kinder und Jugendlichen Deutsch als Bildungssprache lernen. Niemand weiß, wie lange die Menschen bleiben." Wenn man Fehler der Vergangenheit vermeiden wolle, müsse man es von Anfang an so angehen, als blieben sie länger hier. Es sei gut, wenn Kinder und Jugendliche im Einzelfall Kontakt zu ihrer alten Schule hätten und online zusätzlich ukrainische Angebote wahrnähmen.  "Wir werden in Deutschland aber kein paralleles Schulsystem für die Ukraine aufbauen."

Wissen Sie, was ich mich an dieser Stelle frage? 

Wieso kann das nicht genauso klar für Kinder mit Behinderung formuliert werden?

Zeitungsartikel aus dem
Wochenkurier Kamenz/ Radeberg 
Und dann war da auch noch etwas mit gesellschaftlicher Teilhabe und gemeinsamen Aktivitäten - auch Zutaten einer gelungenen Integration. Das gilt übrigens auch für Menschen mit Behinderungen - jeden Alters. Zum Teil gibt es im Vereinsleben und Freizeitbereich rührige Menschen, die sich für Integration und Inklusion engagieren, eine Förderung beantragen und sie auch bekommen.

Das ist gut - das Engagement dieser Ehrenamtler ist unbedingt zu würdigen und das tue ich auch!

Aber wäre es nicht an der Zeit, dass Barrierefreiheit als Zutat für erfolgreiche Integration und gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen genauso in das Vokabular der Ministerinnen und Minister aufgenommen wird? Wäre es nicht an der Zeit, dass endlich auch im Freizeit-, Kultur- und Gastronomiebereich Barrierefreiheit Standard wird?

Ich wollte zum Beginn der Osterferien mit meinen Kolleginnen und Kollegen einfach eine Pizza essen gehen, um unsere Zeit nach diesen extrem anspruchsvollen Schulwochen zu feiern. Wenn ich das will, dann stellt sich jedoch nicht zuerst die Frage: Schmeckt es dort? Sondern es ist immer mit der Frage verbunden: Komme ich ins Restaurant rein? Kann ich mich im Restaurant ungehindert bewegen? Kann ich dort die Toilette benutzen? In Kamenz gibt es kein Restaurant, auch kein neu eröffnetes, das diese drei Fragen mit ja beantworten kann.

Deshalb ist mein Wunsch an diesem Osterfest:

Lasst uns die Zutaten für eine erfolgreiche Integration nutzen. Denn wir wissen schon längst, wie es geht. Jetzt und hauptamtlich. Für alle Menschen.

Damit nur eine Frage beim Restaurantbesuch zählt: 

Wie schmeckt's?

 

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Samstag, 12. Februar 2022

Selbstbestimmung - das Original

Liebe Leserinnen und Leser,

im Zusammenhang mit der aktuell umzusetzenden einrichtungsbezogenen Impfpflicht wird immer wieder als Begründung (der Ablehnung) auf das "Recht auf ein selbstbestimmtes Leben" verwiesen. So auch wie hier der Oberbürgermeister von Kamenz:

Selbstbestimmt leben - das ist ein Begriff aus der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Dort heißt es in Artikel 19: 

"Die Vertragsstaaten dieses Übereinkommens anerkennen das gleiche Recht aller Menschen mit Behinderungen, mit gleichen Wahlmöglichkeiten wie andere Menschen in der Gemeinschaft zu leben, und treffen wirksame und geeignete Maßnahmen, um Menschen mit Behinderungen den vollen Genuss dieses Rechts und ihre volle Inklusion in der Gemeinschaft und Partizipation an der Gemeinschaft zu ermöglichen, indem sie unter anderem gewährleisten, dass

a) Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben, und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben; 
b) Menschen mit Behinderungen Zugang zu einer Reihe von kommunalen Unterstützungsdiensten zu Hause und in Einrichtungen sowie zu sonstigen kommunalen Unterstützungsdiensten haben, einschließlich der persönlichen Assistenz, die zur Unterstützung des Lebens in der Gemeinschaft und Inklusion in der Gemeinschaft sowie zur Verhinderung von Isolation und Segregation von der Gemeinschaft notwendig ist; 
c) Dienste und Einrichtungen in der Gemeinde für die Allgemeinheit Menschen mit Behinderungen auf der Grundlage der Gleichberechtigung zur Verfügung stehen und ihren Bedarfen Rechnung tragen."

Schwellen zum "barrierefreien" Wahllokal
Wenn also ein Oberbürgermeister einer Stadt, in der es kein einziges barrierefreies Restaurant, kein einziges barrierefreies Hotelzimmer, nicht wirklich barrierefreie Wahllokale, ein Schulfest ohne Förderschüler und ein Impfzentrum gibt, in dem erst Barrierefreiheit eingefordert werden muss und der auf die Forderung nach mehr Sichtbarkeit behinderter Menschen im Stadtbild antwortet: "Meine 90-jährige Mutter geht auch nicht mehr alleine vor die Tür.", wenn also dieser OB von einem "selbstbestimmten Leben" spricht, dann meint er nicht das Original. Dann meint er nicht Gleichberechtigung für alle. Sondern das Nach-dem-Mund-Reden von 1% der sächsischen Einwohner, denen es nicht um Gleichberechtigung geht.

"Selbstbestimmt leben" - das geht nur mit Gleichberechtigung. Das geht nur im Original.

"Heute Nachmittag Café Klostertor?"

Liebe Leserinnen und Leser, "Heute Nachmittag Café Klostertor?", war die Reaktion meiner Schulleitung, als ich ihr in dieser Woche...