Mittwoch, 1. April 2020

Maßstäbe

Liebe Leserinnen und Leser,

einige von Ihnen wissen schon, dass ich mit der inflationären Nutzung des Wortes "Inklusion" so meine Schwierigkeiten habe...

Neulich ging es bei einer Veranstaltung um schulische Inklusion. Alles, was vorher "Integration" hieß, wurde nun "Inklusion" genannt. Kein Hinweis auf gesellschaftliche Rahmenbedingungen, kein gesamtgesellschaftlicher Ansatz. Dann ist es eben keine Inklusion, sondern immer noch der medizinische, individuelle Blick auf diejenigen, die vermeintlich ein Problem haben. Irgendwann platzte mir (fast) der Kragen und ich bekam zur Antwort: "Wenn ich so denken würde wie Sie, könnte ich meinen Job kündigen.".

Für mich ist das keine Antwort. Behinderung und Inklusion kann für mich nur in Wechselwirkung mit der Umwelt und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen gedacht werden, sonst ist es keine.

Und zu diesen Rahmenbedingungen gehört auch, wie über den Wert eines Lebens gedacht oder gesprochen wird.

In Zeiten von Corona wird das vielleicht noch deutlicher. Zunächst wurde überall von den Risikogruppen gesprochen, die besonderen Schutz verdienen - ältere und/ oder behinderte Menschen. Überzeugen konnte mich das nicht wirklich, denn es gab zunächst keine Informationen in Gebärdensprache oder in Leichter Sprache. Die Werkstätten für behinderte Menschen (allein in Sachsen sind dort 17.000 Menschen beschäftigt) sind bis heute nicht komplett geschlossen. In 8 Bundesländern werden dort weiterhin systemrelevante Tätigkeiten ausgeführt. (Kann mir mal bitte jemand erklären, wie eine Rehabilitationseinrichtung ohne Mindestlohn für die Beschäftigten systemrelevante Tätigkeiten ausführen kann?)

Den Großeltern, die nicht in Einrichtungen oder Pflegeheimen leben, wurde mal eben empfohlen, sich nicht persönlich mit ihren Enkeln oder Urenkeln zu treffen, während die Menschen, die in Einrichtungen leben, und ihre Pflege- bzw. Bezugspersonen oft mit dem Ansteckungsrisiko allein gelassen wurden.

Also: Wer wird hier tatsächlich wovor geschützt?

Heute morgen nun las ich diesen Tweet:





Da veröffentlichen mehrere medizinische Fachgesellschaften Empfehlungen, wie bei einer möglichen Knappheit an Intensivbetten im Rahmen der Corona-Pandemie entschieden werden soll, wer eine Behandlung erhalten soll und für wen die Verlegung auf die Palliativstation ausreichend ist. Unglaublich.
Als Entscheidungshilfe wird unter anderem auf die Clinical Frailty Scale verwiesen, bei der "Gebrechlichkeit" ein Kriterium ist. Das Symbolbild für "sehr gebrechlich" ist ein Mensch im Rollstuhl, der geschoben wird. Also sind alle Menschen, die einen Elektrorollstuhl nutzen, sehr gebrechlich und verdienen keine intensivmedizinische Behandlung?

Leistungsfähigkeit als Grundlage für medizinische Behandlung? Soll das wirklich der Maßstab sein?

Für mich fängt damit eugenisches Denken an. Und das ist kein Maßstab für mich (und ich hoffe, für viele andere ebenso nicht).

Zum Abschluss fällt mir dazu ein Zitat von Frau Prof. John ein, die Menschlichkeit und den Schutz der Schwächeren "in einer Welt der Machbarkeit zum wichtigsten Maßstab für eine zivilisierte Gesellschaft" erklärt.

Und jetzt schicke ich diesen Blogbeitrag an die Autoren der klinisch-"ethischen" Empfehlungen.

"Heute Nachmittag Café Klostertor?"

Liebe Leserinnen und Leser, "Heute Nachmittag Café Klostertor?", war die Reaktion meiner Schulleitung, als ich ihr in dieser Woche...