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Um was geht es hier eigentlich? oder "Wer Inklusion will, findet Wege. Wer nicht, Begründungen."

Liebe Leserinnen und Leser,

in dieser Woche war Vorbereitungswoche. Morgen beginnt das Schuljahr 2023/2024.

Also Zeit für uns Pädagoginnen und Pädagogen für Vorbereitung und gegenseitige Fortbildung. Deshalb habe ich gemeinsam mit einer Kollegin über unsere Fortbildung via Erasmus+ in Nizza berichtet: "Designing Inclusive Learning Environments to Support all Students" (Inklusive Lernumgebungen schaffen, um alle Schüler zu unterstützen).

Ein Bild, das ich dabei nutzte, war dieses:


Das Bild zeigt drei unterschiedlich große Menschen, die hinter einer Absperrung stehen, um ein Ballspiel zu sehen. Alle drei bekommen denselben Kasten, auf dem sie stehen können. Dabei sieht der Kleinste immer noch nichts. Nur wenn der größte Mensch seinen Kasten an den kleinsten abgibt, kann der körperlich Kleinste auch etwas sehen. Im dritten Bild ist die Absperrung durch ein Netz ersetzt und alle können das Spiel sehen. Überschrieben ist dieses Bild mit "Gerechtigkeit".

Soll heißen, wenn ich Ungleiches gleich behandele, verstärke ich die Ungleichheit. Deshalb meint Inklusion eben nicht Gleichmacherei oder "Gleichschaltung", sondern Menschen mit ihren individuellen Bedürfnissen zu fördern und gleichberechtigt einzubeziehen. Das sollte in der Bildung so sein, aber auch in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen.

Wie weit wir hier in Deutschland, in Sachsen und in Kamenz noch davon entfernt sind, ist auch im Parallelbericht des Deutschen Instituts für Menschenrechte nachzulesen, der in diesen Tagen erschienen ist. Hintergrund ist, dass Ende August 2023 in Genf Deutschland (so wie alle anderen Länder auch, die Menschenrechtskonventionen unterschrieben haben) überprüft wird, wie die Anforderungen der Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Behindertenrechtskonvention) umgesetzt werden.


Blaues Logo der Vereinten Nationen: eine Weltkugel mit einem Kranz umschlossen

Ich fasse es mal so zusammen:

Dabei wird das Institut in seiner Wortwahl, z. B. für den Bereich Bildung sehr deutlich:

  • Immer noch geht die Mehrheit der Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf auf Sonderschulen. 
  • Der vorbehaltlose Rechtsanspruch auf inklusive Bildung fehlt (auch in Sachsen) immer noch. 
  • Nach wie vor werden in Deutschland Sonderpädagog*innen für Förderschulen ausgebildet, statt gezielt Lehrkräfte für Inklusion an Regelschulen auszubilden. Auch allgemeinbildende Lehrkräfte werden noch nicht verpflichtend inklusionspädagogisch aus- und fortgebildet. 
  • Förderschulen werden darüber hinaus als vermeintlicher Teil eines inklusiven Systems behandelt und mit dem Elternwahlrecht auf diese Schulform gerechtfertigt. 
  • In Deutschland herrscht in der Politik und in weiten Teilen der Gesellschaft ein verfehltes Inklusionsverständnis.
 Nach Auffassung des Instituts gilt das auch für die kulturelle Teilhabe:

"Der allgemeine Kunst- und Kulturbetrieb ist trotz seiner Bedeutung für eine inklusive Gesellschaft und für die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen nach wie vor stark exklusiv."

Leider trifft diese Aussage auch auf das Kamenzer Forstfest, Sachsens größtes Schul- und Heimatfest, zu. Highlight ist der Festzug der 1600 Kamenzer Schülerinnen und Schüler mit ihren Lehrerinnen und Lehrern. An diesem Festzug nehmen keine Schülerinnen und Schüler aus Förderschulen teil und die Begründungen dafür klingen so:

"Wir durften in der DDR nicht mitmachen, also dann machen wir jetzt auch nicht mit." (Sollen das Schüler sein, die seit 34 Jahren in die Schule gehen oder wer sagt so etwas?)

"Wir haben in den 60ern das Mitmachen versucht. Es hat nicht geklappt." (Das müsste dann ein Lehrer mit 60 Jahren Berufserfahrung sein?! Und außerdem gab es in den 60ern allenfalls Hilfsschulen, körperbehinderte Kinder wurden im Krankenhaus unterrichtet.)

"Die wollen ja nicht." Naja, liebes Forstfestkomitee, wie ich es am Anfang schon sagte: Alle gleich zu behandeln, verstärkt die Ungleichheit. Seid Ihr schon mal auf Schüler, Eltern und Lehrer zugegangen und habt so etwas gefragt wie:

"Wir wollen alle Kamenzer Schülerinnen und Schüler dabei haben. Ihr gehört auch dazu. Was braucht ihr, um teilzunehmen?" 

Wahrscheinlich nicht. Denn dann müsste man sich Gedanken machen über Assistenzkräfte, Hol- und Bringedienste, barrierefreie Informationen, barrierefreie Anlagen auf dem Festgelände und vielleicht auch die Wegstrecke, die über das Kamenzer Altstadt-Kopfsteinpflaster führt. 

Ich höre sie schon reden: "Das Kopfsteinpflaster ist ja nun mal da. Dann würde das Altstadtflair fehlen."

Wie hört sich das für Sie an? Es erinnert mich an den Satz: "Wer Inklusion will, findet Wege. Wer nicht, Begründungen."

Und ich frage mich an dieser Stelle: Um was geht es hier eigentlich: eine inklusive Gesellschaft oder eine exklusive Veranstaltung?


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