Montag, 5. September 2022

Wird der Oberbürgermeister mein neuer Arbeitsassistent?

Liebe Leserinnen und Leser, wie die Menschen aus Kamenz und Umgebung in meiner Leserschaft in den letzten 2 Wochen sicher mitbekommen haben, wurde nach 27 Monaten und mit 41 Millionen "eine der modernsten Schulen Sachsens" fertiggestellt.

Das, was ich in diesen mehr als zwei Jahren Ehrenamt erlebt habe, kann man zusammenfassen mit Ignoranz und Unwillen - gepaart mit Unkenntnis. Und das kam so:

Nachdem ich
- mich im September 2020 erstmals bei der Stadt und beim Landkreis nach der Barrierefreiheit des neuen Schulstandortes erkundigt habe
- beim Verkehrskonzept mitdiskutiert habe
- eine Vor-Ort-Begehung zur Busanbindung gemacht habe
- beim Tag der nicht barrierefreien Baustelle vor Ort war
- ich immer wieder beschwichtigt wurde ("Machen Sie sich keine Sorgen, das ist doch ein öffentliches Gebäude, das muss doch barrierefrei sein.")

Parkplatz mit Rillen als Bodenbelag


- mich erneut nach Bordsteinabsenkungen und Zuwegungen erkundigt habe
- in der Schulkonferenz nach der Barrierefreiheit der Eröffnungsveranstaltung gefragt habe ("Ich gehe davon aus.", war die Antwort des Landkreisvertreters.)
- nachdem ich auf die fehlenden Hinweise zur Barrierefreiheit in der Einladung zur Eröffnung hingewiesen habe, konnte ich am 15. August 2022 zum ersten Mal den (einzigen) Fahrstuhl des neuen/alten Gotthold-Ephraim-Lessing-Gymnasiums benutzen und deshalb auch mein künftiges Arbeitszimmer sehen.
Schwelle im Baustellenzustand

Vor meinem Arbeitszimmer entdeckte ich eine Schwelle und ich sagte:
"Die sollte noch entfernt werden."
Die Antwort überraschte mich dann doch:
"Es gibt überall im Altbau Schwellen. Wenn wir sie rausreißen würden, widerspräche das dem Denkmalschutz."
‎Ernsthaft? Eine Schule, die voll ist mit Technik der Neuzeit, in der es keine einzige grüne Tafel mehr gibt, ein öffentliches Gebäude, das der inklusiven Bildung dient, muss Schwellen enthalten, damit der Denkmalschutz gewahrt bleibt?‎Im Sächsischen Denkmalschutzgesetz ist übrigens die Berücksichtigung der Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen in § 1 Abs. (4) festgeschrieben. Außerdem sagt dieses Gesetz in § 12, dass ‎die Bausubstanz nur mit Genehmigung der Denkmalschutzbehörde verändert werden darf. Hat irgendwer überhaupt diesen Antrag gestellt? Und aufgrund welchen Ermessens hat die Denkmalschutzbehörde entschieden?

Die ‎‎Schwelle zur Aula ist übrigens bis heute noch höher als die vor den anderen Räumen, sodass ich die Aula, in die ich am darauffolgenden Sonntag zur Eröffnung eingeladen war, nicht selbstständig betreten konnte.‎

Also bitte ich den Oberbürgermeister, nachdem er und viele weitere Männer mittleren Alters ihre Sonntagsreden gehalten hatten, um Hilfe, um die halbe Stufe zu bewältigen. Und ich sage zu ihm: "Sie sehen selbst, da muss noch eine Rampe nachgerüstet werden." Und auch seine Antwort überraschte mich: "Das ist nicht nötig, Frau Pohl. Wo wir beide das so gut gemeinsam geschafft haben!"

Eingang zur Aula mit ca. 6 cm Schwelle

Was soll ich mit dieser Antwort anfangen? Will der Oberbürgermeister mein Arbeitsassistent werden? Und bei jeder Stufe oder Schwelle, die ich in der neuen, nicht barrierefreien Schule zu bewältigen habe, zur Stelle sein? Oder wäre das Herausnehmen der Schwellen nicht doch die bessere Lösung?

Montag, 11. Juli 2022

Fetschers Förderzentrum

Ein blauer Trabant mit einem schwarzen Bachelor-Hut und dem Motto "TrAbi 2022 - 12 Jahre Lieferzeit"

 Liebe Leserinnen und Leser,

das Schuljahr geht zu Ende und endlich können meine Schülerinnen und Schüler wieder gemeinsam ihre bestandenen Abiturprüfungen feiern - diesmal unter dem Motto: "TrAbi 2022 - 12 Jahre Lieferzeit".

Ein paar Tage zuvor war ich im 11. Jahrgang zur Verteidigung einer Jahresarbeit zum Thema "Euthanasie im Nationalsozialismus" eingeladen. In diesem Zusammenhang sprachen wir auch über das ausgeprägte Separieren im deutschen Schulsystem, das (s)einen Ursprung  im Nationalsozialismus hat. 

Die Elftklässlerin stellte Ihre Arbeit vor Achtklässlern vor und interessant war dabei, dass die Schüler bei der Frage "Welche Erfahrungen habt ihr im Umgang mit Menschen mit Behinderung?" in meinem Beisein mit "Ich kenne keine Menschen mit Behinderung" geantwortet haben.

Beim Abiball  sitze ich dann neben einer Pädagogin und sie erklärt mir erst, dass sie es besonders für körperbehinderte Kinder doch besser fände, wenn diese in der Fischhausstr. (dort befindet sich eine Dresdner Förderschule) betreut würden, weil sie dort einfach die besseren räumlichen Bedingungen hätten (was ja leider tatsächlich der Realität entspricht), z. B. ein Therapiebecken. Andererseits habe ich in den letzten ca. 30 Jahren Berufsausbildung und -tätigkeit noch nie ein Therapiebecken vermisst, fehlende Fahrstühle, Rampen und barrierefreie Toiletten allerdings schon.

Schülerinnen und Schüler mit Autismus könne man aber schon gut integrieren, findet meine Gesprächspartnerin weiter. Aha. Sie würde ihren Schülern (ohne sonderpädagogischen Förderbedarf) stattdessen gern eine Werkstatt für behinderte Menschen zeigen - "Das ist ja wie Zoo", konnte ich mir nicht verkneifen. Meine Gesprächspartnerin lässt sich nicht beirren, weil "man kennt im Alltag einfach keine Menschen mit Behinderung." Deshalb findet sie es auch gut, wenn Schüler ohne Behinderung gemeinsam mit einem Menschen mit Behinderung an einem Lauf teilnehmen. "Wie heißt der Lauf noch?" - "Inklusionslauf", antworte ich.

"Dass die meisten Menschen keinen Menschen mit Behinderung im Alltag kennen, ist doch das eigentliche Problem. Die Lösung wäre das gemeinsame Leben, Lernen und Arbeiten.", versuche ich die Unterhaltung noch irgendwie zu retten. Aber keine Chance.

Zuhause schaue ich mir mal die Webseite der Förderschule für Körperbehinderte genauer an und leider ist alles so, wie ich befürchtet habe: Die Schule nennt sich nicht Schule, sondern Förderzentrum, zum Team und zu den Partnern der Schule gehören Krankenschwestern und Eltern, aber nicht die Agentur für Arbeit, Unterstützte Kommunikation ist ein Thema, aber nicht Unterstützte Beschäftigung oder Persönliche Assistenz.

Und schließlich noch das: Das Förderzentrum für "fröhliche und leistungsfähige KINDER und JUGENDLICHEN mit Besonderheiten in der körperlichen und motorischen Entwicklung und daraus resultierendem erhöhten Sonderpädagogischen Förderbedarf, mit den gleichen Bedürfnissen und Träumen wie ihre Altersgefährten" (Zitat von der Website) trägt den Namen Dr. Rainer Fetscher so wie sich auch das Universitätsklinikum der TU Dresden an der Fetscherstr. befindet.

Mir schwant schon nichts Gutes und Wikipedia liefert tatsächlich diese Informationen über Prof. Dr. Rainer Fetscher: "Nachdem er sich gegen Ende der Weimarer Republik bereits nationalsozialistischen Positionen angenähert hatte, ohne freilich in Einzelfragen wie der sogenannten Mischehe und im radikalen Antisemitismus der NS-Ideologie zu folgen, begrüßte er ausdrücklich das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933."

Hm. Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses war die gesetzliche Grundlage für den massenweisen Mord an Menschen mit seelischen, körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen in den folgenden Monaten und Jahren.

Ob das die Schule und der Stadtrat auch wissen?

Nachtrag vom 13. Juli 2022: Sie wissen es, wie dieser Artikel aus dem Jahre 2007 im Stern beweist.

Samstag, 16. April 2022

Wir wissen, wie es geht - und tun es trotzdem nicht. Oder: Wie schmeckt's?

Liebe Leserinnen und Leser,

derzeit flüchten viele Menschen aus der Ukraine zu uns und wieder stellt sich die Frage, wie Integration gelingen kann.

Eigentlich kennen wir sie schon, die Zutaten für eine schnelle und nachhaltige Integration, z. B.

      • Ansiedlung in prosperierenden Ballungsräumen
      • Arbeitsmarktintegration durch systematische Sprachförderung
      • schnelle Anerkennung beruflicher Abschlüsse
      • umfassende Bildungs- und Weiterbildungsangebote
      • schnelle Aufnahme der Arbeitsvermittlung
      • Integration von Kindern in Bildungs- und Betreuungseinrichtungen
      • gezielte Förderung der Integration geflüchteter Frauen in Arbeitsmarkt, Bildungssystem und Gesellschaft

Das IAB ist das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung Nürnberg.

Jetzt wird es spannend, weil es um eines meiner Lieblingsthemen geht: gemeinsame Bildung. 

  • Dazu sagte Karin Prien, die aktuelle Präsidentin der Kultusministerkonferenz: "Integration ist untrennbar damit verbunden, dass die Kinder und Jugendlichen Deutsch als Bildungssprache lernen. Niemand weiß, wie lange die Menschen bleiben." Wenn man Fehler der Vergangenheit vermeiden wolle, müsse man es von Anfang an so angehen, als blieben sie länger hier. Es sei gut, wenn Kinder und Jugendliche im Einzelfall Kontakt zu ihrer alten Schule hätten und online zusätzlich ukrainische Angebote wahrnähmen.  "Wir werden in Deutschland aber kein paralleles Schulsystem für die Ukraine aufbauen."

Wissen Sie, was ich mich an dieser Stelle frage? 

Wieso kann das nicht genauso klar für Kinder mit Behinderung formuliert werden?

Zeitungsartikel aus dem
Wochenkurier Kamenz/ Radeberg 
Und dann war da auch noch etwas mit gesellschaftlicher Teilhabe und gemeinsamen Aktivitäten - auch Zutaten einer gelungenen Integration. Das gilt übrigens auch für Menschen mit Behinderungen - jeden Alters. Zum Teil gibt es im Vereinsleben und Freizeitbereich rührige Menschen, die sich für Integration und Inklusion engagieren, eine Förderung beantragen und sie auch bekommen.

Das ist gut - das Engagement dieser Ehrenamtler ist unbedingt zu würdigen und das tue ich auch!

Aber wäre es nicht an der Zeit, dass Barrierefreiheit als Zutat für erfolgreiche Integration und gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen genauso in das Vokabular der Ministerinnen und Minister aufgenommen wird? Wäre es nicht an der Zeit, dass endlich auch im Freizeit-, Kultur- und Gastronomiebereich Barrierefreiheit Standard wird?

Ich wollte zum Beginn der Osterferien mit meinen Kolleginnen und Kollegen einfach eine Pizza essen gehen, um unsere Zeit nach diesen extrem anspruchsvollen Schulwochen zu feiern. Wenn ich das will, dann stellt sich jedoch nicht zuerst die Frage: Schmeckt es dort? Sondern es ist immer mit der Frage verbunden: Komme ich ins Restaurant rein? Kann ich mich im Restaurant ungehindert bewegen? Kann ich dort die Toilette benutzen? In Kamenz gibt es kein Restaurant, auch kein neu eröffnetes, das diese drei Fragen mit ja beantworten kann.

Deshalb ist mein Wunsch an diesem Osterfest:

Lasst uns die Zutaten für eine erfolgreiche Integration nutzen. Denn wir wissen schon längst, wie es geht. Jetzt und hauptamtlich. Für alle Menschen.

Damit nur eine Frage beim Restaurantbesuch zählt: 

Wie schmeckt's?

 

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Samstag, 12. Februar 2022

Selbstbestimmung - das Original

Liebe Leserinnen und Leser,

im Zusammenhang mit der aktuell umzusetzenden einrichtungsbezogenen Impfpflicht wird immer wieder als Begründung (der Ablehnung) auf das "Recht auf ein selbstbestimmtes Leben" verwiesen. So auch wie hier der Oberbürgermeister von Kamenz:

Selbstbestimmt leben - das ist ein Begriff aus der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Dort heißt es in Artikel 19: 

"Die Vertragsstaaten dieses Übereinkommens anerkennen das gleiche Recht aller Menschen mit Behinderungen, mit gleichen Wahlmöglichkeiten wie andere Menschen in der Gemeinschaft zu leben, und treffen wirksame und geeignete Maßnahmen, um Menschen mit Behinderungen den vollen Genuss dieses Rechts und ihre volle Inklusion in der Gemeinschaft und Partizipation an der Gemeinschaft zu ermöglichen, indem sie unter anderem gewährleisten, dass

a) Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben, und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben; 
b) Menschen mit Behinderungen Zugang zu einer Reihe von kommunalen Unterstützungsdiensten zu Hause und in Einrichtungen sowie zu sonstigen kommunalen Unterstützungsdiensten haben, einschließlich der persönlichen Assistenz, die zur Unterstützung des Lebens in der Gemeinschaft und Inklusion in der Gemeinschaft sowie zur Verhinderung von Isolation und Segregation von der Gemeinschaft notwendig ist; 
c) Dienste und Einrichtungen in der Gemeinde für die Allgemeinheit Menschen mit Behinderungen auf der Grundlage der Gleichberechtigung zur Verfügung stehen und ihren Bedarfen Rechnung tragen."

Schwellen zum "barrierefreien" Wahllokal
Wenn also ein Oberbürgermeister einer Stadt, in der es kein einziges barrierefreies Restaurant, kein einziges barrierefreies Hotelzimmer, nicht wirklich barrierefreie Wahllokale, ein Schulfest ohne Förderschüler und ein Impfzentrum gibt, in dem erst Barrierefreiheit eingefordert werden muss und der auf die Forderung nach mehr Sichtbarkeit behinderter Menschen im Stadtbild antwortet: "Meine 90-jährige Mutter geht auch nicht mehr alleine vor die Tür.", wenn also dieser OB von einem "selbstbestimmten Leben" spricht, dann meint er nicht das Original. Dann meint er nicht Gleichberechtigung für alle. Sondern das Nach-dem-Mund-Reden von 1% der sächsischen Einwohner, denen es nicht um Gleichberechtigung geht.

"Selbstbestimmt leben" - das geht nur mit Gleichberechtigung. Das geht nur im Original.

"Heute Nachmittag Café Klostertor?"

Liebe Leserinnen und Leser, "Heute Nachmittag Café Klostertor?", war die Reaktion meiner Schulleitung, als ich ihr in dieser Woche...