Sonntag, 12. November 2023

"Heute Nachmittag Café Klostertor?"

Liebe Leserinnen und Leser,

"Heute Nachmittag Café Klostertor?", war die Reaktion meiner Schulleitung, als ich ihr in dieser Woche frustriert und wütend vom Stand des Antrags auf Schulbegleitung für ein Kind unserer Schule berichtete.

Zutaten für Mohn-Marzipan-Eis

Wie Sie wissen, liebe Leserinnen und Leser, beschäftige ich mich schon sehr lange mit inklusiver Bildung. Und ja, im Moment sogar aus der Sicht eines sächsischen Gymnasiums (auch diese arbeiten z. T. inklusiv). In dieser Woche habe ich mich (wieder) gefragt/ fragen müssen: 

- Wieso werden ambulante Unterstützungsleistungen wie Schulbegleitungen an inklusiven Schulen immer wieder eher in Frage gestellt als Unterstützungsleistungen an (stationären) Sondereinrichtungen?

- Wann hören wir endlich damit auf, Ergebnisse von Momentaufnahmen einer einmaligen Hospitation über die einer prozesshaften Begleitung zu stellen?

Wieso lernen wir nicht von unseren Nachbarn in Europa und anderswo in der Welt, in denen es viel mehr Sonderpädagogen, Schulbegleiter und auch pflegerisches Personal an inklusiven (Regel-)Schulen für alle gibt, um flexibler auf Unterstützungsbedarf reagieren zu können?

- Weshalb werden Schulen, die Inklusion wirklich wollen, so im Regen stehen gelassen? (Diese Frage gilt übrigens auch für Arbeitgeber, die inklusiv arbeiten wollen.)

- Wieso hängt es auch 2023 noch vom rechtlichen Durchhaltevermögen der Eltern behinderter Kinder ab, ob ihnen die gleichen Bildungschancen eröffnet werden wie nichtbehinderten Kindern auch?

Oft führen diese Eltern und deren Kinder irgendwann selbst, wenn sie können, einen lebenslangen Kampf um inklusive Bildung und Arbeit. Zuletzt gelesen habe ich darüber bei meiner Blogger-Kollegin Mareike Fusz in dieser Woche. Sie berichtet dort über den 9-jährigen (!) Kampf um einen Platz auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt.

Und hier - in einer der modernsten Schulen Sachsens - wie reagiert da der Landkreis auf einen Antrag auf Schulbegleitung?

"Wenn das Schreibtempo ein Problem ist, muss das Kind eben auf eine andere Schule." - Weil dann das Schreibtempo höher wird?!? Oder weil dann die Beeinträchtigung nicht mehr da ist?!?

"Das Kind scheint sozial gut integriert zu sein, da braucht es keinen Schulbegleiter." Was hat das mit der Beeinträchtigung und der schulischen Leistung zu tun?!? Hätten wir das Kind lieber ausgrenzen sollen?!?

Lebenslange, gemeinsame Bildung und Arbeit (die Rentenpolitik lasse ich jetzt mal aus), das sollte ohne Kampf möglich und auch kein (Weihnachts-)Wunsch mehr sein, sondern gleiches Recht.

Darauf ein Mohn-Marzipan-Eis im Café Klostertor!

Sonntag, 20. August 2023

Um was geht es hier eigentlich? oder "Wer Inklusion will, findet Wege. Wer nicht, Begründungen."

Liebe Leserinnen und Leser,

in dieser Woche war Vorbereitungswoche. Morgen beginnt das Schuljahr 2023/2024.

Also Zeit für uns Pädagoginnen und Pädagogen für Vorbereitung und gegenseitige Fortbildung. Deshalb habe ich gemeinsam mit einer Kollegin über unsere Fortbildung via Erasmus+ in Nizza berichtet: "Designing Inclusive Learning Environments to Support all Students" (Inklusive Lernumgebungen schaffen, um alle Schüler zu unterstützen).

Ein Bild, das ich dabei nutzte, war dieses:


Das Bild zeigt drei unterschiedlich große Menschen, die hinter einer Absperrung stehen, um ein Ballspiel zu sehen. Alle drei bekommen denselben Kasten, auf dem sie stehen können. Dabei sieht der Kleinste immer noch nichts. Nur wenn der größte Mensch seinen Kasten an den kleinsten abgibt, kann der körperlich Kleinste auch etwas sehen. Im dritten Bild ist die Absperrung durch ein Netz ersetzt und alle können das Spiel sehen. Überschrieben ist dieses Bild mit "Gerechtigkeit".

Soll heißen, wenn ich Ungleiches gleich behandele, verstärke ich die Ungleichheit. Deshalb meint Inklusion eben nicht Gleichmacherei oder "Gleichschaltung", sondern Menschen mit ihren individuellen Bedürfnissen zu fördern und gleichberechtigt einzubeziehen. Das sollte in der Bildung so sein, aber auch in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen.

Wie weit wir hier in Deutschland, in Sachsen und in Kamenz noch davon entfernt sind, ist auch im Parallelbericht des Deutschen Instituts für Menschenrechte nachzulesen, der in diesen Tagen erschienen ist. Hintergrund ist, dass Ende August 2023 in Genf Deutschland (so wie alle anderen Länder auch, die Menschenrechtskonventionen unterschrieben haben) überprüft wird, wie die Anforderungen der Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Behindertenrechtskonvention) umgesetzt werden.


Blaues Logo der Vereinten Nationen: eine Weltkugel mit einem Kranz umschlossen

Ich fasse es mal so zusammen:

Dabei wird das Institut in seiner Wortwahl, z. B. für den Bereich Bildung sehr deutlich:

  • Immer noch geht die Mehrheit der Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf auf Sonderschulen. 
  • Der vorbehaltlose Rechtsanspruch auf inklusive Bildung fehlt (auch in Sachsen) immer noch. 
  • Nach wie vor werden in Deutschland Sonderpädagog*innen für Förderschulen ausgebildet, statt gezielt Lehrkräfte für Inklusion an Regelschulen auszubilden. Auch allgemeinbildende Lehrkräfte werden noch nicht verpflichtend inklusionspädagogisch aus- und fortgebildet. 
  • Förderschulen werden darüber hinaus als vermeintlicher Teil eines inklusiven Systems behandelt und mit dem Elternwahlrecht auf diese Schulform gerechtfertigt. 
  • In Deutschland herrscht in der Politik und in weiten Teilen der Gesellschaft ein verfehltes Inklusionsverständnis.
 Nach Auffassung des Instituts gilt das auch für die kulturelle Teilhabe:

"Der allgemeine Kunst- und Kulturbetrieb ist trotz seiner Bedeutung für eine inklusive Gesellschaft und für die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen nach wie vor stark exklusiv."

Leider trifft diese Aussage auch auf das Kamenzer Forstfest, Sachsens größtes Schul- und Heimatfest, zu. Highlight ist der Festzug der 1600 Kamenzer Schülerinnen und Schüler mit ihren Lehrerinnen und Lehrern. An diesem Festzug nehmen keine Schülerinnen und Schüler aus Förderschulen teil und die Begründungen dafür klingen so:

"Wir durften in der DDR nicht mitmachen, also dann machen wir jetzt auch nicht mit." (Sollen das Schüler sein, die seit 34 Jahren in die Schule gehen oder wer sagt so etwas?)

"Wir haben in den 60ern das Mitmachen versucht. Es hat nicht geklappt." (Das müsste dann ein Lehrer mit 60 Jahren Berufserfahrung sein?! Und außerdem gab es in den 60ern allenfalls Hilfsschulen, körperbehinderte Kinder wurden im Krankenhaus unterrichtet.)

"Die wollen ja nicht." Naja, liebes Forstfestkomitee, wie ich es am Anfang schon sagte: Alle gleich zu behandeln, verstärkt die Ungleichheit. Seid Ihr schon mal auf Schüler, Eltern und Lehrer zugegangen und habt so etwas gefragt wie:

"Wir wollen alle Kamenzer Schülerinnen und Schüler dabei haben. Ihr gehört auch dazu. Was braucht ihr, um teilzunehmen?" 

Wahrscheinlich nicht. Denn dann müsste man sich Gedanken machen über Assistenzkräfte, Hol- und Bringedienste, barrierefreie Informationen, barrierefreie Anlagen auf dem Festgelände und vielleicht auch die Wegstrecke, die über das Kamenzer Altstadt-Kopfsteinpflaster führt. 

Ich höre sie schon reden: "Das Kopfsteinpflaster ist ja nun mal da. Dann würde das Altstadtflair fehlen."

Wie hört sich das für Sie an? Es erinnert mich an den Satz: "Wer Inklusion will, findet Wege. Wer nicht, Begründungen."

Und ich frage mich an dieser Stelle: Um was geht es hier eigentlich: eine inklusive Gesellschaft oder eine exklusive Veranstaltung?


Samstag, 22. April 2023

Verpasste Chancen und ungenutzte Schätze

Liebe Leserinnen und Leser!

Ich bin gerade dabei, den 7. Bericht zur Lage der Menschen mit Behinderungen im Freistaat Sachsen zu lesen. (Das sind mehr als 500 Seiten!) Und - Überraschung - der Bericht ist noch nicht barrierefrei.

Hier mal ein paar bedenkenswerte Punkte:
"Hinsichtlich des Öffentlichen Personennahverkehrs schreibt das PBefG (Personenbeförderungsgesetz) vor, einen barrierefreien Zugang zum straßengebundenen Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) zum 01.01.2022 umzusetzen. Zurzeit sind in den sächsischen Städten 30 bis 40 % der ÖPNV-Haltestellen barrierefrei gestaltet, im ländlichen Raum dagegen nur 5 %." Hier werden Gesetze ignoriert und es passiert - nichts.

"Bauzeitlich aufgehobene Haltestelle" in Berlin
Aufgehobene Haltestelle - Quelle: privat

"Auch in Bezug auf die inklusive Unterrichtung zeigen sich innerhalb Sachsens große Unterschiede je nach Region: Während in den Landkreisen Leipzig und Nordsachsen mehr als 50 % der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf eine Regelschule besuchen, sind die entsprechenden Anteile in vielen anderen Kreisfreien Städten und Landkreisen deutlich geringer. Am niedrigsten sind sie mit 21 % im Landkreis Görlitz."
Im Landkreis Bautzen sind es 26%, das bedeutet, dass trotz aller schönen Inklusionsreden immer noch 3/4 aller Schüler mit Behinderung bzw. sonderpädagogischem Förderbedarf im Landkreis Bautzen in Sonderschulen unterrichtet werden. Das finde ich besonders schade, weil hier allen Schülerinnen und Schülern, auch und gerade denen ohne Beeinträchtigungen, die Chance genommen wird, Empathie, Sinn für Benachteiligung, Gerechtigkeit, Sensibilität für Barrieren, ein Gefühl für Vielfalt zu entwickeln, für unterschiedliche Bedürfnisse, für Wege, sich abzugrenzen oder auch dazuzugehören.
"Im Jahr 2017 waren von den Personen im erwerbsfähigen Alter (von 18 bis 64 Jahren) ohne Behinderungen in Sachsen 83 % erwerbstätig gegenüber 48 % der Personen mit Behinderungen." Hier liegt ein riesiger ungenutzter Schatz an Erfahrungen und Fähigkeiten brach, die bei weiterer Nicht-Erwerbstätigkeit zu mehr Armut und mehr Exklusion führen (und was beim aktuellen Fachkräfte- und Personalmangel nicht nachzuvollziehen ist).
"Unter anderem wurde ermittelt, dass rund 88 % der Wohnungen, die Menschen mit motorischen Behinderungen derzeit bewohnen, die Kriterien für Barrierefreiheit nicht oder nur teilweise erfüllen." Dabei würde mehr Barrierefreiheit in diesem Bereich zu mehr sozialer Inklusion im ganz normalen Alltag und zur Entlastung der stationären Einrichtungen führen.
"Nur 3% der untersuchten (Arzt-)Praxen erwiesen sich als umfassend barrierefrei in Bezug auf den Zugang zur Praxis, die Gegebenheiten innerhalb der Praxis und die Toiletten.
Neben der baulichen Zugänglichkeit wurden in der Studie auch Schwierigkeiten im Arbeitsablauf oder in der Behandlung untersucht. 36 % der Praxen gaben an, in ihrer täglichen Arbeit keine Barrieren oder Schwierigkeiten zu erleben, bei den verbleibenden Praxen wurden dagegen z. B. Schwierigkeiten bei Krankentransporten, bei der Behandlung von Rollstuhlfahrenden oder von Patientinnen und Patienten mit Sinnesbehinderungen identifiziert." Wenn Gesundheit das höchste Gut ist, das wir Menschen besitzen, dann sind die fehlende Barrierefreiheit von Arztpraxen und Untersuchungsmöbeln sowie fehlende geschulte Assistenz ein echtes Gesundheitsrisiko und im schlimmsten Fall lebenszeitverkürzend.

Die Hamburger Band Station 17 beim Popkultur Festival Berlin 2019 ++ am 22.08.2019 in Berlin (Berlin). (c) Andi Weiland | Gesellschaftsbilder.de
Quelle: Andi Weiland, Gesellschaftsbilder.de


"Bundesweite Daten zeigen, dass kulturelle Veranstaltungen von 86 % der Menschen ohne Beeinträchtigungen und von rund 64 % der Menschen mit Beeinträchtigungen regelmäßig oder gelegentlich besucht werden. Insbesondere der Besuch von den überwiegend frei finanzierten Veranstaltungen wie Kino, Jazz- oder Popkonzerten, Tanzveranstaltungen etc. unterscheidet sich zwischen Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen: Diese Veranstaltungen besuchen rund 77 % der Menschen ohne Beeinträchtigungen und rund 46 % der Menschen mit Beeinträchtigungen."
Wenn ich mal über meine Einladungen zu Bällen, in Restaurants, zu Festen, Märkten, Stadtteiltreffs, Quartierbüros oder Ausstellungen nachdenke, dann sind in der Region Kamenz die Prozentzahlen für Menschen mit Beeinträchtigungen noch deutlich niedriger.
Es bleibt also noch eine Menge zu tun, Schätze zu bergen und Chancen zu nutzen. In Sachsen und in Kamenz.

"Heute Nachmittag Café Klostertor?"

Liebe Leserinnen und Leser, "Heute Nachmittag Café Klostertor?", war die Reaktion meiner Schulleitung, als ich ihr in dieser Woche...