Sonntag, 14. November 2021

Verdrehte Inklusion Teil 1 oder Wer sind die Experten?

 Liebe Leserinnen und Leser,

was mich manchmal so wütend macht, ist Folgendes: 

Innerhalb der Debatte um (schulische) Inklusion werden in Deutschland regelmäßig Dinge in einen Topf geworfen, die entweder nichts mit der UN-Behindertenrechtskonvention zu tun haben oder es werden Regelungen erlassen, die nur halbherzig und von Gleichberechtigung weit entfernt sind oder es werden Expertinnen und Experten für Inklusion (selbst)ernannt, die gar keine sind.

Alles das ist auch in dieser Woche wieder passiert.

Der Freistaat Sachsen hat 2017 beschlossen, zur Entwicklung schulischer Inklusion mit kurzen Wegen und der Bildung von Kooperationsverbünden beizutragen.

Vier Jahre später habe ich an einer Anfrage an den Kreistag zum Stand der Umsetzung dieser Kooperationsverbünde mitgewirkt und folgende Fragen gestellt:

"1. Wie viele Kooperationsverbünde nach § 4c (4) Satz 2 Sächsisches Schulgesetz arbeiten mit Beginn des Schuljahres 2021/2022 im Landkreis Bautzen? 
2. Wie viele öffentliche Schulen im Landkreis sind an Kooperationsverbünden beteiligt? Wie viele öffentliche Schulen im Landkreis Bautzen sind nicht an Kooperationsverbünden beteiligt?
3. Wie viele Schulen in freier Trägerschaft sind an Kooperationsverbünden beteiligt?
4. Zu welchen Förderschwerpunkten können die einzelnen Kooperationsverbünde beraten und zu welchen nicht?
5. Wie sind Art und Umfang der Zusammenarbeit der Schulen innerhalb der Kooperationsverbünde im Landkreis Bautzen geregelt – Personal, Arbeitsstunden, Kooperationsverträge, Befugnisse, Arbeitsaufträge?
6. Mit welchen außerschulischen Partnern arbeiten die Kooperationsverbünde im Landkreis Bautzen zusammen?
7. Welche ersten Ergebnisse und Hinweise für die weitere sonderpädagogische Förderung und die Gestaltung des inklusiven Unterrichts im Landkreis Bautzen liegen bisher vor?
8. Welche Erkenntnisse und Schlussfolgerungen aus der Arbeit der Kooperationsverbünde leitet der Landkreis für die künftige Inklusionspolitik im Bereich der schulischen Bildung ab?"

Und hier sind die Antworten: bis Oktober 2021 haben sich sieben Kooperationsverbünde im Landkreis konstituiert. Was das konkret in der Praxis bedeutet, lässt sich für mich in der Praxis nicht erkennen, obwohl ich in einer öffentlichen Schule arbeite.

Interessant finde ich jedenfalls den Gedanken, dass aus der Beratung und Diagnostik der Förderzentren "schulische Inklusion resultieren" kann. Ich halte diese Schlussfolgerung für - gewagt. Doch dazu später mehr.

Zu den oben genannten halbherzigen Regelungen gehört auch die Antwort auf Frage 5 nach den konkreten Modalitäten der Zusammenarbeit im Kooperationsverbund. Es gibt offensichtlich keine gemeinsamen Ziele, Zeiträume, Vorgaben für Verbundmitglieder oder Netzwerke. Das finde ich insofern unzureichend, weil Inklusion ohne die Berücksichtigung des Umfelds, ohne die Einbeziehung von Menschen mit Behinderung und deren Verbände keine Inklusion ist.

Dazu wird noch ausgeführt, dass der wichtigste Akteur im Kooperationsverbund der Moderator/ die Moderatorin sei und für 6 der 7 Kooperationsverbünde eben dieser wichtigste Akteur noch nicht gefunden sei. Was genau tun dann diese Kooperationsverbünde, wenn weder Inhalte noch die wichtigsten Akteure bekannt sind?

Zahnloser Tiger
Zahnloser Tiger oder vielleicht ein Löwenbaby 😉

In den Fragen sieben und acht ging es um erste Schlussfolgerungen und erste Ergebnisse der Kooperationsverbünde. Geantwortet wird mit den Zielen der Kooperationsverbünde. In der Schule gäbe das ein "Thema verfehlt".

Und dann spricht mich diese Woche noch eine Kollegin an:

"Seitdem ich Dich kenne, achte ich viel mehr auf Barrierefreiheit. Zum Beispiel der Bahnhof Hoyerswerda. Der ist doch gar nicht rollstuhlzugänglich, oder?!"

Ja, das stimmt. Seitdem das Förderzentrum für körperbehinderte Kinder vor 40 Jahren seine Arbeit aufnahm, ist es nicht gelungen, den Bahnhof barrierefrei zu gestalten. Wie sichtbar sind dann die Schülerinnen und Schüler mit Körperbehinderungen im Stadtbild? (Baustart für einen rollstuhlgerechten Bahnhof soll jetzt übrigens 2024 sein.)

Für mich ist das ein weiteres Beispiel dafür, dass in den Förderzentren zwar Experten für Diagnosen und Experten für Förderbedarf arbeiten, aber keine Experten für Inklusion.

Mein Eindruck bestätigt sich auch, wenn ich auf der Website des Förderzentrums zur Berufsschulstufe diese Vorgaben für Praktika lese:

"Folgende Praktika werden parallel zum Unterricht angeboten:

innerschulische Praktika bei Dienstleitern innerhalb unseres Förderzentrums

Praktika in den verschiedensten Bereichen der Werkstatt für behinderte Menschen (incl. BBB)

Praktika in Integrationsfirmen bzw. Betrieben/soziale Einrichtungen in der Region."

Keine Unterstützte Beschäftigung, keine Arbeitsassistenz, kein Budget für Ausbildung oder Arbeit, keine Praktika auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt.

Inklusion regelt sich nicht über Freiwilligkeit und im Selbstlauf (das ist bei der Barrierefreiheit und bei der Gleichberechtigung ebenso.) 

Es braucht klare Regeln, klare zeitliche und inhaltliche Rahmenbedingungen und - endlich - eine klare Priorisierung der ambulanten, inklusiven Unterstützungsformen.

Dann braucht der Tiger auch keinen Zahnarzt mehr.


Donnerstag, 1. April 2021

Von treppenliftfahrenden Bankräubern und seltenen Nebenwirkungen

 Liebe Leserinnen und Leser,

dass ich mich oft mit dem Thema Barrierefreiheit befasse, wissen Sie schon.

Narzissen

Immer wieder stelle ich fest, dass, auch wenn "barrierefrei" dran steht, viele Orte es in der Praxis dann doch nicht sind. Über "meine" Schule z. B. hieß es auch immer, dass sie barrierefrei sei (was meistens nur das Vorhandensein eines Fahrstuhls meint). "Und dann kamen Sie.", fügt der Schulleiter heute oft hinzu. Z. B. braucht man einen Schlüssel aus dem Sekretariat, das über Treppen zu erreichen ist, um den Fahrstuhl nutzen zu können. Nicht wirklich praktisch, wenn Eltern einen Rollstuhl nutzen und etwas im Sekretariat zu erledigen haben.

Ähnlich ergeht es mir immer bei der hiesigen Post und der dazugehörigen Bank. Dort handelt es sich nicht um einen Fahrstuhl, sondern einen Treppenlift, der mit einem Schlüssel zu bedienen ist, den man nur über den Treppenaufgang bekommen kann. Hinzu kommt dann noch, dass die Bedienung dieses Treppenlifts so wenig bekannt und auch nicht selbsterklärend ist, dass jedesmal mindestens zwei Mitarbeiter minutenlang damit beschäftigt sind, die Liftplattform, die Auffahrrampe und die klappbaren Bügel so zu koordinieren, dass ein Betreten der Filiale möglich ist. (Erfahrungen im Festgeklemmtsein zwischen den Bügeln habe ich auch schon.)

Sie sehen, Barrierefreiheit hat auch immer was mit Einfachheit zu tun. Also frage ich, ob es nicht besser wäre, einen Treppenlift zu installieren, der einfacher und ohne Schlüssel funktioniert. "Das geht nicht. Wegen der Sicherheit." Da könne ja jemand unbemerkt in die Filiale eindringen. Aber mal ganz ehrlich, liebe Leserinnen und Leser, wie viele Bankräuber sind Ihnen bekannt, die beim Raubzug einen Treppenlift benutzen?

Adressliste mit Corona-Testzentren

Neben der Einfachheit ist es immer wieder das Drandenken, was bei der Barrierefreiheit fehlt. Aktuell werden (meiner Meinung nach viel zu spät) überall Testzentren eingerichtet und es werden die gleichen Fehler gemacht wie schon bei der Einrichtung der Impfzentren. Nirgendwo finden sich Hinweise zur Barrierefreiheit und zum Anfahrtsweg. In einigen Testzentren gibt es nur eine Möglichkeit der Terminvereinbarung. They did it again...

Und zum Schluss noch diese Neuigkeit: Ich bin inzwischen einmal mit AstraZeneca geimpft worden - letzten Endes aus medizinischen Gründen. Beim Empfang wurde ich trotzdem gefragt: "Sind Sie Lehrerin?" (Man sieht mir also schon an, dass ich in einer Schule arbeite ;)) Inzwischen gibt es verschiedene Regelungen, die sich täglich ändern (was nicht gerade zum Vertrauen in die Impfkampagne beiträgt). Aktuell soll der AstraZeneca-Impfstoff nur noch für Menschen über 60 eingesetzt werden aufgrund mehrerer Fälle von Hirnvenenthrombosen, die im Zusammenhang mit der Impfung aufgetreten sind.

Manchmal hilft ein Blick in die Zahlen hinter den Bedenken: von 2,4 Millionen Geimpften ist innerhalb von 14 Tagen nach der Impfung bei 31 Personen eine Sinusthrombose festgestellt worden - das sind 0,0013% aller AstraZeneca-Geimpften oder auch 1,3 Personen von 100.000 geimpften Menschen. Ja, das ist ein Risiko - aber tatsächlich hoch genug, um die Impfungen für Millionen Menschen auszusetzen? 

Beipackzettel
Auf dem Beipackzettel zu einem Medikament sind "sehr seltene Nebenwirkungen" solche, die weniger als 1 von 10.000 Menschen betreffen. Bei den Hirnvenenthrombosen handelt es sich um 10mal weniger Fälle.

Oder auch: Die Häufigkeit, ein Kind mit einem sogenannten "offenen Rücken" (Spina bifida, angeborene Querschnittlähmung) zur Welt zu bringen, liegt bei 1:3000 Geburten. Dieses Risiko liegt also 30mal höher als eine Hirnvenenthrombose nach einer AstraZeneca-Impfung zu bekommen.

Ich werde das Risiko eingehen und eine zweite Impfung mit AstraZeneca machen lassen, weil für mich das Risiko einer schweren Corona-Infektion und einer weiter bestehenden Pandemie schwerer wiegen als das Risiko einer Sinusthrombose.

Ich wünsche Ihnen allen gesunde, fröhliche Feiertage!



Sonntag, 28. Februar 2021

Vom Impf-BER und dem sehr alten Herrn Hitzlsperger

 Impfen, impfen und kein Ende...


Liebe Leserinnen und Leser, nachdem ich endlich erfolgreich 2 Impftermine zum Schutz vor dem Corona-Virus für meine Mutter ergattert habe, versuche ich nun, einen Impftermin für mich selbst zu bekommen. Und das ist wie der BER, nur dass es eben um etwas viel Existenzielleres als das Reisen geht - es geht um Gesundheit.

Hier die Kurzfassung: In der letzten Woche besorgte ich mir ein ärztliches Zeugnis darüber, dass meine Impfung gegen das Corona-Virus eine hohe Priorität hat und ich aufgrund von Vorerkrankungen zur Priorisierungsgruppe 2 der zu Impfenden gehöre.
Zu dieser Zeit war aber auf der sächsischen Website zur Impfregistrierung genau diese Personengruppe noch gar nicht gelistet.
Umso mehr staunte ich, dass an einem Freitag plötzlich "Lehrer, Erzieher und Polizisten" auf der Website als diejenigen Personengruppen benannt wurden, die als nächstes geimpft werden sollen. Also rief ich bei der Hotline an:

"Ich arbeite an einer Schule, bin aber keine Lehrerin, sondern Schulsozialarbeiterin."
"Das macht nichts. Dann registriere ich Sie trotzdem als Lehrerin. Einen Termin können Sie aber erst in ein paar Tagen machen."

Zwei Tage später der Rückruf: die Website sollte noch gar nicht online gehen, die schon bestehenden Registrierungen bleiben aber bestehen.
Also versuche ich seit Tagen, telefonisch einen Impftermin zu bekommen. Keine Chance - siehe Bild oben "zu hohes Telefonaufkommen".

Also versuche ich es über mein ärztliches Attest online, so mein Plan. Der funktioniert aber auch nicht, weil ich ja telefonisch schon über die Tätigkeit an der Schule registriert bin. Und die Automatenstimme in der überlasteten Hotline sagt mir wiederum, ich könnte es ja online versuchen.

Sie verstehen also mein Problem?! 
Zwickmühle


Trotz dieser absolut unbefriedigenden Lage gibt es immer wieder auch Dinge, die Mut machen oder auch irgendwie komisch sind.

Ein solcher Mutmacher ist zum Beispiel die Entwicklung in Sachen Schulbegleitung in Zeiten der Pandemie, die viele engagierte Menschen hier im Landkreis angeschoben haben.

Und irgendwie witzig waren in der letzten Woche zwei Begebenheiten:
  • Im Supermarkt sprach mich eine Kollegin und Schulsozialarbeiterin einer anderen Schule an: "Durch die Maske und die längeren Haare hätte ich dich fast nicht erkannt!" 😉 Gut zu wissen, dass ich von einigen Menschen nicht nur über die 4 Räder definiert werde...
  • Und schließlich die Diskussion mit einer Schülerin über Homophobie im Fußball. "Es gibt ja bisher nur einen - ehemaligen - Fußballer, der sich geoutet hat. Und der ist schon sehr alt." "Wir sprechen über Thomas Hitzlsperger, richtig?!" "Ja, wieso?" "Sehr alt..." Ich hab es gegoogelt: der Mann ist 38 Jahre alt.
Ihnen eine mutmachende, witzige Woche, liebe Leserinnen und Leser!



Samstag, 6. Februar 2021

"Schönen Tag noch, Frau Pohl!"

 Liebe Leserinnen und Leser,


heute gibt es wieder etwas Positives zu berichten. Die Beschilderung am Impfzentrum weist nun tatsächlich den barrierefreien Weg zum Impfzentrum.

"Frau Pohl, wir haben die Beschilderung zum impfzentrum geändert", sprach mich vor ein paar Tagen der Geschäftsführer des hiesigen DRK-Kreisverbandes an.

"Ich hab es gesehen. Sehr gut!"

"Ich hatte Ihnen ja auch geschrieben, weil ich wissen wollte, wie man z. B. mit einer seltenen Erkrankung in eine hoch priorisierte Gruppe der zu Impfenden kommt. Auf der Webseite kommt man ja nur an einen Impftermin, wenn man über 80 ist oder in einem Pflegeheim lebt."

"Ja, das muss noch eingepflegt werden."

"Dann bliebe nur noch eine Frage: Wann haben Sie wieder genügend Impfstoff, damit Sie mich impfen können?" 😄

"Schönen Tag noch, Frau Pohl!"

Taxifahrer im Landkreis Bautzen
Und dann lese ich neulich, dass es doch keine "Impftaxis" im Landkreis geben wird, die es besonders Senioren ermöglichen würden, kostengünstig und unabhängig vom Öffentlichen Personennahverkehr zum Impfzentrum zu gelangen. Die Gemeinden seien jetzt aufgerufen, den "Transport" älterer Menschen zum Impfzentrum über die Feuerwehren zu organisieren, war im selben Artikel zu lesen. Mal ganz abgesehen davon, dass man meiner Meinung nach nur Vieh und Koffer transportieren kann und nicht Menschen - wie soll das bitte gehen? Oder man sollte sich beim Arzt eine Bescheinigung über eine Krankenbeförderung mit dem Taxi besorgen, wenn man einen Schwerbehindertenausweis mit den Merkzeichen "B", "aG" und "H" oder Pflegegrad 3 hat.

Ich kann eine solche Entscheidung in dieser besonderen Zeit nicht verstehen, denn Barrierefreiheit geht anders. Und die Wiederbelebung der Wirtschaft und des öffentlichen Lebens auch.

Aber mehr rege ich mich heute nicht auf.

Schönen Tag noch, liebe Leserinnen und Leser!

Montag, 1. Februar 2021

Das, was fehlt: ansprechen + zuhören + beteiligen


Ich bin langsam wirklich sauer und frustriert, weil ich so viele Menschen kenne, die sich seit Monaten für den Schutz aller Menschen vor Corona einsetzen, Umsetzungsvorschläge machen, auf vergessene Personengruppen hinweisen und nicht gehört werden. Wochen um Wochen und Monate um Monate ziehen ins Land und der Eindruck entsteht, wir lernen aus dieser Pandemie nichts.

Drei Beispiele: 

1. Beteiligung

Barrierefreiheit hat viel mit Beteiligung zu tun. Werden die Menschen, die ich möglicherweise von den Corona-Schutzmaßnahmen ausschließe, beteiligt und gehört? Da bekommen derzeit ältere Menschen Post von der Bundesregierung mit den Berechtigungsscheinen für die FFP2-Masken, die sie sich zweimalig aus der Apotheke holen können. Wir reden hier von der Gruppe der über 80-Jährigen, die auch schon mal öfter in der Mobilität eingeschränkt sein können. Wäre es dann nicht sinnvoller, wenn man diese Masken einfach in den Umschlag reingesteckt hätte?!

Oder das Internetportal zur Impfterminvergabe. Hätte man z. B. die Seniorenvertretungen vorher mal gefragt, wie sie sich eine Terminvergabe vorstellen, hätte diese Personengruppe bestimmt nicht die Onlineregistrierung an erster Stelle genannt. Außerdem ist die Website für Menschen mit Sehbeeinträchtigungen oder auch für gehörlose Menschen oder für Menschen mit Lernschwierigkeiten nicht barrierefrei:

Teilweise Barrierefreiheit der Website zur Impfterminvergabe

Und von der Odyssee, die meist die Töchter oder Söhne der Seniorinnen und Senioren durchlaufen, um nach der Registrierung tatsächlich an einen Impftermin für ihre Verwandten zu gelangen, will ich erst gar nicht sprechen. Ich bin jetzt beim 12. erfolglosen Versuch.

2. Barrierefreiheit

Von der fehlenden Barrierefreiheit und unzureichenden Beschilderung der Impfzentren habe ich schon berichtet. Es ist für mich nicht nachvollziehbar, dass auch im Jahr 12 nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention ernsthaft noch der Vorschlag gemacht wird, dass doch Feuerwehrmänner den Impfwilligen im Rollstuhl zum Impfzentrum tragen könnten - so wie hier in diesem Bericht aus Gotha.



„Das ist kein Problem, da helfen uns bei Rollstuhlfahrern kräftige Männer von der Bundeswehr und von der Security. Ich...

Gepostet von Markus Walloschek am Dienstag, 26. Januar 2021

Apropos Impfzentrum: Auch unser Kamenzer Impfzentrum ist nicht so ausgeschildert, dass die Besucherinnen und Besucher problemlos und barrierefrei dort ankommen. Ich hatte dazu das Deutsche Rote Kreuz Bautzen angeschrieben, das das Impfzentrum betreibt. Keine Antwort.

Irgendwann treffe ich vor dem Impfzentrum neben den Bundeswehrsoldaten und Mitarbeitern einer Sicherheitsfirma in ihren typischen Uniformen auch einen Mann im weißen Hemd, der mir aus einem Zeitungsartikel bekannt vorkommt. Schon fast dran vorbei, gehe ich nochmal zurück

"Sind Sie der Geschäftsführer?"
"Ja."
"Freut mich, Sie kennenzulernen. Ich hatte Ihnen eine E-Mail geschrieben wegen der Barrierefreiheit des Impfzentrums."
Schweigen. Dann: "Ich hab Sie hier auch schon mehrmals gesehen."
"Ja?"
"Sie arbeiten im Gymnasium?"
"Stimmt." Also hat er doch meine E-Mail gelesen...

Wir kommen also doch noch über die Beschilderung ins Gespräch, schließlich fragt er:
"Wann haben Sie eigentlich Ihren Impftermin?" Weil dann würde er persönlich und überhaupt...

Hm. Mag ja sein, dass ich bei manchen Fragestellungen alt aussehe, aber so alt, dass man mich für über 80 hält?! Oder denkt er, dass ich in einem Pflegeheim lebe?! 

3. Priorisierte Impfungen

Womit ich bei den priorisierten Gruppen wäre, die zuerst geimpft werden. Auch wenn die Ständige Impfkommission ihre Empfehlungen noch einmal in Richtung der Öffnung bezüglich der seltenen Erkrankungen und Menschen, die im häuslichen Umfeld gepflegt und unterstützt werden, korrigiert hat, ist das noch nicht in den Ländern und Kommunen angekommen, wie dieser Artikel und die aktuelle Website zur Impfberechtigung in Sachsen zeigt:

Screenshot Priorisierungskriterien der Corona-Schutzimpfung

Um wirklich alle Menschen mitzunehmen, bleibt also noch viel zu tun. 

Eigentlich schreibe ich immer einen positiven Schlusssatz, aber diesmal bin ich tatsächlich etwas ratlos. 

Die Menschen zielgerichtet ansprechen, ihnen zuhören und sie beteiligen
- für mich ist es aktuell das, was fehlt. 

Montag, 18. Januar 2021

Von Brenngläsern und Elefanten

Liebe Leserinnen und Leser, "wie unter einem Brennglas werden" während der Coronapandemie "die Benachteiligungen von Menschen mit Behinderung sichtbar und die Erfordernisse, die noch zu einer inklusiven Gesellschaft fehlen". So beginnt eine schriftliche Anfrage zur Schulbegleitung von Kindern mit seelischer, körperlicher, geistiger bzw. Sinnesbeeinträchtigung, die gleich zu Beginn diesen Jahres an den Kreistag des Landkreises Bautzen gestellt wurde und an der ich mitgearbeitet habe. Wie funktioniert Inklusion in Zeiten der Pandemie und was können wir aus der Pandemie für eine inklusive Gesellschaft ableiten? Das sind Fragen, die mich umtreiben, antreiben und die mich aktuell eher frustrieren und wütend machen. 

Beispiel Schulbegleitung - für die Insider: gesetzliche Grundlage ist § 35a SGB VIII - diese wird da mal während der Schulschließung abgelehnt aus 3 Gründen:

  • striktes Kontaktverbot (dann dürfte auch niemand mehr zum Arzt gehen oder dann müssten allen Menschen mit Pflege- oder Assistenzbedarf die Unterstützungspersonen entzogen werden)
  • weil ja die Schulen geschlossen sind (die Schulpflicht und die Beeinträchtigung besteht ja weiterhin) und
  • weil alle Eltern von schulpflichtigen Kindern gleich zu behandeln sind.
Über diesen letzten Grund hab ich mich am meisten geärgert, weil da wohl jemand Gleichbehandlung und Gleichberechtigung verwechselt und weil es in dieser Pandemie keine Gleichbehandlung gibt. Nicht beim Zugang zu FFP2-Masken, nicht beim Zugang zu Schnelltests und auch nicht beim Zugang zu den Impfzentren und den Impfungen gegen das Corona-Virus.

Stichwort Impfzentren: In meinem letzten Post habe ich darüber berichtet, welche Kriterien für  barrierefreies Arbeiten der Impfzentren ausschlaggebend sind. Und wie läuft es in der Realität im Jahr 12 nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention tatsächlich ab?

Die Turnhalle an "meiner" Schule sollte als eines von 13 Impfzentren in Sachsen eingerichtet werden. Am Freitag vor der Eröffnung führte das einzige Hinweisschild über diesen Eingang:


Am darauffolgenden Montag sind immerhin zwei Eingangspavillons da, einer an den Stufen und einer an der Stirnseite. Bis zum Pavillon an der Stirnseite führte ein Weg über einen Absatz, der ca. 7 cm hoch ist. Den komme ich nicht selbständig hoch. Weil zu dieser Zeit auch unsere Haustechniker draußen im Einsatz waren und ich zu denen einen guten Draht habe, versprechen sie, eine Rampe anzulegen:


Inzwischen sitze ich in meinem Büro und ein Techniker kommt vorbei. "Ich müsste mal Ihre Maße nehmen." "Bitte?!" "Ich will nur wissen, wie breit Ihr Rollstuhl ist." 😉 Seitdem gibt es diese Rampe. Und - man glaubt es kaum - auf ihr waren gleich am nächsten Tag fremde Reifenspuren. Es scheint also unter den über 80-Jährigen tatsächlich Menschen zu geben, die sich mit oder auf Rädern fortbewegen und die den Rollator lieber schieben als heben. #ironieoff

Auf der Website des DRK, das in Sachsen mit dem Aufbau und dem Betrieb der Impfzentren beauftragt wurde, keine Hinweise zum barrierefreien Zugang, zu barrierefreien Toiletten. Gebärdensprachvideo und Leichte Sprache? Fehlanzeige. (Denn das hier ist keine Leichte Sprache.) Also habe ich das DRK Sachsen auf diesen Mangel hingewiesen. Keine Reaktion.

Auch das DRK Bautzen, das für unseren Landkreis für den Betrieb des Impfzentrums verantwortlich ist, habe ich auf die fehlenden Informationen und Beschilderungen zur Barrierefreiheit hingewiesen. Keine Reaktion.

All das ist frustrierend und zeugt nur davon, dass die Verantwortlichen im Land und Landkreis nicht verstanden haben (oder...), dass Barrierefreiheit und Assistenzdienste die Voraussetzung für Inklusion sind und das Teilhabe sehr viel mit Beteiligung zu tun hat. 

Wer soll hier eigentlich tatsächlich geschützt werden und wer wird einfach vergessen?

Dazu passt noch folgende Anekdote zum Schluss: Mit dieser Postkarte hatte neulich ein älterer Herr, der offensichtlich auch noch eine Menge Humor hat, im Schulsekretariat nach einem Termin für die CoronaSchutzimpfung gefragt. Die Turnhalle nebenan, die als Impfzentrum fungiert, hat ja keine eigene Hausnummer.

Bildbeschreibung: Postkarte mit Zitat von Charlie Chaplin: "Nach manchem Gespräch mit einem Menschen hat man das Verlangen, einen Hund zu streicheln, einem Affen zuzunicken und vor einem Elefanten den Hut zu ziehen." 

Liebe Leserinnen und Leser, wenn man wirklich die Älteren erreichen und niemanden vergessen will, dann braucht es mehr Möglichkeiten der Rückmeldung (z. B. auch über die Postkarten), Taxiunternehmen, um die Menschen zu den Impfzentren zu bringen und eine direkte Ansprache der zu Impfenden z. B. durch schriftliche Benachrichtigungen.
Dann würde ich den Hut ziehen. Nicht nur vor dem Elefanten.


"Heute Nachmittag Café Klostertor?"

Liebe Leserinnen und Leser, "Heute Nachmittag Café Klostertor?", war die Reaktion meiner Schulleitung, als ich ihr in dieser Woche...