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"Ein Fahrstuhl sorgt für Gentrifizierung." Barrierefreiheit im Aktiven Zentrum Turmstraße

Mein heutiger Post beginnt mit den Absätzen 4) und 5) des § 51 der Bauordnung Berlin:


 (4) Sollen rechtmäßig bestehende bauliche Anlagen nach Absatz 2 in ihrer Nutzung oder wesentlich baulich geändert werden, gelten die in Absatz 2 genannten Anforderungen entsprechend; bei einer wesentlichen baulichen Änderung bleiben im Übrigen die in § 85 Abs. 3 aufgestellten Voraussetzungen unberührt.


  (5) Von den Absätzen 1 bis 4 dürfen Abweichungen gemäß § 68 Abs. 1 nur zugelassen werden, soweit die Anforderungen 1.wegen schwieriger Geländeverhältnisse,2.wegen des Einbaus eines sonst nicht erforderlichen Aufzugs oder3. wegen ungünstiger vorhandener Bebauung nur mit einem unverhältnismäßigen Mehraufwand erfüllt werden können.

Das sind also die Gründe, aus denen von der oft zitierten "selbstverständlichen Barrierefreiheit" abgewichen werden kann:
  • wenn die bauliche Veränderung nicht wesentlich ist
  • bei schwierigen Geländeverhältnissen
  • falls der Aufzug sonst nicht erforderlich wäre (?!)
  • bei ungünstiger vorhandener Bebauung und
  • unverhältnismäßigem Mehraufwand.
In dieser Woche fand nun eine Begehung der Arminiusmarkthalle in Berlin-Moabit mit anschließender Sitzung des Ausschusses für Soziales und Bürgerdienste statt. Ausgangspunkt war ein Antrag des Beirats von und für Menschen mit Behinderung für mehr Barrierefreiheit in der Markthalle, in der auch kulturelle Events stattfinden. Es fehlen rollstuhlgerechte Toiletten, automatische Türöffner und kontrastreiche Beschilderung.

Außerdem führte die Begehung noch durch die Geschäftsstraßen des Aktiven Zentrums Turmstraße und den Kleinen Tiergarten.

In der anschließenden Ausschusssitzung waren dann auch der Inhaber der Markthalle, ein Vertreter des Geschäftsstraßenmanagements sowie des Koordinationsbüros für Stadtentwicklung zugegen. Apropos Bürgerbeteiligung: Ja, es waren auch Menschen mit Behinderung eingeladen und sie hatten auch Rederecht, aber:
 Ich erfuhr am Pfingstmontag, dass am Dienstag darauf nun tatsächlich die Begehung stattfinden sollte - für Menschen, die auf Assistenz und/oder Barrierefreiheit angewiesen sind, eindeutig zu knapp, weil viele Mobilitätsdienste an Feiertagen nicht erreichbar sind und mindestens einen Tag Vorlauf brauchen. Und auch deshalb, weil immer was dazwischen kommen kann:

Doch nun zur Begehung und Sitzung: Schon lange hab ich nicht mehr so viel fehlende Bereitschaft und fadenscheinige Argumente gehört: zu teuer, zu wenig Platz, Denkmalschutz, "danach hat noch nie einer gefragt", "manche können auch aufstehen und zur Toilette gehen".

Und schon lange auch nicht mehr so viel Unkenntnis über baurechtliche Vorgaben.

Bsp.?

"Im Kerngebiet sind ca. 45% aller Geschäfte barrierefrei zugänglich, in den Nebenstraßen 13%."
"Wie definieren Sie barrierefrei?"
"Der Höhenunterschied am Eingang des Geschäfts ist nicht mehr als 5 cm hoch."
"Wie kommen Sie auf die 5 cm?" (Beim abgesenkten Bürgersteig sind bespielsweise zwei Zentimeter als Höhenunterschied gestattet.)
"Ich hab einen E-Rollstuhl-Fahrer gefragt."

Und auch dieser "Zusammenhang" im altersgerechten Wohnungsbau war mir neu:

"Der An- oder Einbau eines Fahrstuhls trägt zur Gentrifizierung, d. h. Abwanderung einkommensschwacherer Bevölkerung, bei."
"Und deshalb bauen sie ihn nicht?"
"So ist es."

Auf dem Rückweg an einer Ladentür entdeckt: 10 Standards für Barrierefreiheit
Ein gutes Ergebnis hatte die Sitzung aber doch: Das Koordinationsbüro für Stadtentwicklung wird die Möglichkeit einer finanziellen Beteiligung an möglichen Umbaukosten der Arminiusmarkthalle prüfen.

Meine Prognose: Solange es keine verbindlichen rechtlichen Regelungen für Barrierefreiheit im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention auch im privaten Bereich gibt, solange es auch keine nachhaltigen, durchgehenden Konzepte zur Finanzierung von Umbauten unter Beteiligung möglichst vieler Träger gibt und - für mich das Wichtigste - so lange Bereitschaft und Wissen so wenig vorhanden sind, habe ich wenig Hoffnung, dass die Arminiusmarkthalle in den nächsten 20 Jahren wenigstens über eine rollstuhlgerechte Toilette verfügt.

So lange gilt der derzeit gültige Vertrag.

Meine Geduld nicht.


Kommentare

  1. Das Grundproblem ist, dass die Bundesregierung die Umsetzung der UN Behindertenrechtskonvention zur Ländersache erklärt hat – Der Bund argumentiert „der Bund kann die Länder nicht anweisen z.B. Barrierefreie Gesetzes zu schaffen, der Bund tut das nicht weil wir lt. Grundgesetz ein föderales system haben und der Bund nicht in Ländersachen eingreifen darf. Für mich totaler Quatsch da ich die UN Behindertenrechtskonvention und die entsprechende Umsetzung als Bundessache sehe. Die Frage die sich daraus ergibt gilt das Grundgesetz nur für die Politik und nicht für die Menschen? Anscheinend ja

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