Liebe Leserinnen und Leser,
was mich manchmal so wütend macht, ist Folgendes:
Innerhalb der Debatte um (schulische) Inklusion werden in Deutschland regelmäßig Dinge in einen Topf geworfen, die entweder nichts mit der UN-Behindertenrechtskonvention zu tun haben oder es werden Regelungen erlassen, die nur halbherzig und von Gleichberechtigung weit entfernt sind oder es werden Expertinnen und Experten für Inklusion (selbst)ernannt, die gar keine sind.
Alles das ist auch in dieser Woche wieder passiert.
Der Freistaat Sachsen hat 2017 beschlossen, zur Entwicklung schulischer Inklusion mit kurzen Wegen und der Bildung von Kooperationsverbünden beizutragen.Vier Jahre später habe ich an einer Anfrage an den Kreistag zum Stand der Umsetzung dieser Kooperationsverbünde mitgewirkt und folgende Fragen gestellt:
"1. Wie viele Kooperationsverbünde nach § 4c (4)
Satz 2 Sächsisches Schulgesetz arbeiten mit Beginn des Schuljahres 2021/2022 im Landkreis Bautzen?
2. Wie viele öffentliche Schulen im Landkreis sind
an Kooperationsverbünden beteiligt? Wie viele öffentliche Schulen im Landkreis
Bautzen sind nicht an Kooperationsverbünden beteiligt?
3. Wie viele Schulen in freier Trägerschaft sind an
Kooperationsverbünden beteiligt?
4. Zu welchen Förderschwerpunkten können die
einzelnen Kooperationsverbünde beraten und zu welchen nicht?
5. Wie sind Art und Umfang der Zusammenarbeit der
Schulen innerhalb der Kooperationsverbünde im Landkreis Bautzen geregelt –
Personal, Arbeitsstunden, Kooperationsverträge, Befugnisse, Arbeitsaufträge?
6. Mit welchen außerschulischen Partnern arbeiten
die Kooperationsverbünde im Landkreis Bautzen zusammen?
7. Welche ersten Ergebnisse und Hinweise für die
weitere sonderpädagogische Förderung und die Gestaltung des inklusiven
Unterrichts im Landkreis Bautzen liegen bisher vor?
8. Welche Erkenntnisse und Schlussfolgerungen aus
der Arbeit der Kooperationsverbünde leitet der Landkreis für die künftige
Inklusionspolitik im Bereich der schulischen Bildung ab?"
Und hier sind die Antworten: bis Oktober 2021 haben sich sieben Kooperationsverbünde im Landkreis konstituiert. Was das konkret in der Praxis bedeutet, lässt sich für mich in der Praxis nicht erkennen, obwohl ich in einer öffentlichen Schule arbeite.
Interessant finde ich jedenfalls den Gedanken, dass aus der Beratung und Diagnostik der Förderzentren "schulische Inklusion resultieren" kann. Ich halte diese Schlussfolgerung für - gewagt. Doch dazu später mehr.
Zu den oben genannten halbherzigen Regelungen gehört auch die Antwort auf Frage 5 nach den konkreten Modalitäten der Zusammenarbeit im Kooperationsverbund. Es gibt offensichtlich keine gemeinsamen Ziele, Zeiträume, Vorgaben für Verbundmitglieder oder Netzwerke. Das finde ich insofern unzureichend, weil Inklusion ohne die Berücksichtigung des Umfelds, ohne die Einbeziehung von Menschen mit Behinderung und deren Verbände keine Inklusion ist.
Dazu wird noch ausgeführt, dass der wichtigste Akteur im Kooperationsverbund der Moderator/ die Moderatorin sei und für 6 der 7 Kooperationsverbünde eben dieser wichtigste Akteur noch nicht gefunden sei. Was genau tun dann diese Kooperationsverbünde, wenn weder Inhalte noch die wichtigsten Akteure bekannt sind?
Zahnloser Tiger oder vielleicht ein Löwenbaby 😉 |
In den Fragen sieben und acht ging es um erste Schlussfolgerungen und erste Ergebnisse der Kooperationsverbünde. Geantwortet wird mit den Zielen der Kooperationsverbünde. In der Schule gäbe das ein "Thema verfehlt".
Und dann spricht mich diese Woche noch eine Kollegin an:
"Seitdem ich Dich kenne, achte ich viel mehr auf Barrierefreiheit. Zum Beispiel der Bahnhof Hoyerswerda. Der ist doch gar nicht rollstuhlzugänglich, oder?!"
Ja, das stimmt. Seitdem das Förderzentrum für körperbehinderte Kinder vor 40 Jahren seine Arbeit aufnahm, ist es nicht gelungen, den Bahnhof barrierefrei zu gestalten. Wie sichtbar sind dann die Schülerinnen und Schüler mit Körperbehinderungen im Stadtbild? (Baustart für einen rollstuhlgerechten Bahnhof soll jetzt übrigens 2024 sein.)
Für mich ist das ein weiteres Beispiel dafür, dass in den Förderzentren zwar Experten für Diagnosen und Experten für Förderbedarf arbeiten, aber keine Experten für Inklusion.
Mein Eindruck bestätigt sich auch, wenn ich auf der Website des Förderzentrums zur Berufsschulstufe diese Vorgaben für Praktika lese:
"Folgende Praktika werden parallel zum Unterricht angeboten:
innerschulische Praktika bei Dienstleitern innerhalb unseres Förderzentrums
Praktika in den verschiedensten Bereichen der Werkstatt für behinderte Menschen (incl. BBB)
Praktika in Integrationsfirmen bzw. Betrieben/soziale Einrichtungen in der Region."
Keine Unterstützte Beschäftigung, keine Arbeitsassistenz, kein Budget für Ausbildung oder Arbeit, keine Praktika auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt.
Inklusion regelt sich nicht über Freiwilligkeit und im Selbstlauf (das ist bei der Barrierefreiheit und bei der Gleichberechtigung ebenso.)
Es braucht klare Regeln, klare zeitliche und inhaltliche Rahmenbedingungen und - endlich - eine klare Priorisierung der ambulanten, inklusiven Unterstützungsformen.
Dann braucht der Tiger auch keinen Zahnarzt mehr.
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