Donnerstag, 2. Januar 2014

Das Problem heißt nicht Alkoholismus, sondern Isolation.

Sehr geehrter Herr Degenhardt, sehr geehrte Spiegel-Online-Redaktion!

Nachdem ich Ihren Artikel über Alkoholsucht bei Menschen mit Lernschwierigkeiten gelesen habe, bin ich, ehrlich gesagt, sprachlos.

Wann und bei wem haben sie sich über den Zweck der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (so heißt sie nämlich wirklich) oder über selbstbestimmtes (das ist nicht das Gleiche wie selbstständiges) Leben behinderter Menschen informiert? Kennen Sie selbst Menschen mit Lernschwierigkeiten?

Der Zweck der UN-Konvention ist nicht, dass Menschen mit Behinderungen am "normalen Leben teilhaben sollen", sondern dass "Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben, und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben." (Artikel 19 der Konvention). Es geht also um das Ermöglichen, nicht um Sollen oder Müssen.

Bundesinitiative Daheim statt Heim
Gleichzeitig sind die Staaten, die diese Konvention unterzeichnet haben, verpflichtet, dafür zu sorgen, dass diese Rechte auch gewährleistet werden können. Z. B. durch die Bereitstellung von Persönlicher Assistenz und anderen Unterstützungsdiensten (nachzulesen in Artikel 4 und 5 der Konvention Grundsätze der Nichtdiskriminierung und der Bereitstellung angemessener Vorkehrungen).

Zur Unterscheidung zwischen selbstbestimmtem und selbständigem Leben empfehle ich das "ABC des selbstbestimmten Lebens", das von der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben e. V. herausgegeben wurde.

Beim Lesen Ihres Artikels ist mir außerdem nicht klar, welche Absicht sie damit verfolgen. Wenn Sie schreiben "Doch für Behinderte, die selbständig leben, ist es genauso leicht wie für Nichtbehinderte, an Alkohol zu kommen." - Soll jetzt im Supermarkt nicht mehr nur der Personalausweis vorgezeigt werden, sondern auch der Schwerbehindertenausweis? Ab welchem Grad der Behinderung wären Sie für ein Alkoholverbot? Und wer stellt fest, ob und ab wann der Kunde eine geistige Behinderung hat oder nicht?

Ich sehe es so: Nicht der Alkoholismus ist das Hauptproblem, sondern fehlende Unterstützungsangebote im Umfeld und auch fehlende barrierefreie Freizeitangebote in der Gemeinde oder auch die hohe Arbeitslosigkeit derer, die nicht in Werkstätten für behinderte Menschen beschäftigt sind.

Zurück zu den Heimen? Soll das die Botschaft sein? Auf "Deutschlands führender Nachrichtenseite"?

Wenn Sie eine Diskussion über Alkoholismus unter behinderten Menschen anstoßen wollen, dann doch auch darüber, wieviele alte Menschen in Heimen durch Medikamente ruhig gestellt werden, weil der Personalschlüssel viel zu niedrig ist.

Mein Vorschlag: Berichten Sie doch stattdessen mal über Norwegen! Dort hat die Regierung bereits 1991 beschlossen, dass kein Mensch mit einer geistigen Behinderung mehr in einem Heim leben muss.
Den Artikel dazu finden Sie hier

Oder über Dänemark: Dort wurde bereits 1987 ein Baustopp für Pflegeheime für alte Menschen verhängt.
Hier sind nähere Informationen.

Bringen Sie doch mal eine Diskussion ins Rollen, wie wir hier in Deutschland die Heimkultur in eine Kiezkultur umwandeln können! In Kieze, in denen jeder die notwendige Unterstützung erhält und gleichzeitig mittendrin ist!

Für Nachfragen und Mitarbeit stehe ich gern zur Verfügung.

Dann wird Spiegel Online auch wieder meine führende Nachrichtenseite.

Freundliche Grüße,

Ulrike Pohl

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