Samstag, 28. Oktober 2017

Maßstab Mensch oder "Machen Sie doch den Luther!"

Was für eine Woche!
Am Montag eine Fortbildung zur Internationalen Klassifikation von Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit - kurz ICF. Wie ermittelt man Unterstützungsbedarf in einem bio-psycho-sozialen Modell von Behinderung? Zeitgemäßer wäre allerdings die Frage: 
Wie ermittelt man Unterstützungsbedarf in einem menschenrechtlichen Modell von Behinderung?

Am Dienstag dann ein Treffen mit der Agentur für Arbeit. Und das war ernüchternd. Mir ist der Übergang von der Schule in den Arbeitsmarkt wichtig. Dort werden die Weichen für ein inklusives Arbeitsleben gestellt. Oder auch nicht. Da ist der Fall eines gehörlosen jungen Mannes, den habe ich auf Twitter mal so skizziert:

https://twitter.com/teilhabebewegt/status/918801818343309312

 "Med. Gutachten der Arbeitsagentur fordert "Arbeitserprobung" in Einrichtung XY, die wiederum feststellt, dass eine Grundausbildung bei XY das Beste sei - das alles bei zugesagtem betrieblichen Ausbildungsplatz. #findedenfehler"

Stimmt die Richtung? Kompass auf Holzfläche

Das Maß der Rechte aus der UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderungen sind die Rechte der Menschen ohne Behinderungen. Würde bei einem Schulabgänger ohne Behinderungen, der einen Schulabschluss und damit Ausbildungsreife und zugesagten Ausbildungsplatz hat, die Agentur für Arbeit den Ausbildungsvertrag platzen lassen mit der Begründung: "Du schaffst das möglicherweise nicht, geh lieber in eine Einrichtung außerhalb des Arbeitsmarktes."?

Und was macht es mit den Betrieben, die Menschen mit Behinderung ausbilden und einstellen wollen, wenn Ihnen genau das so schwer gemacht wird? Wenn Zeit für Gutachten und Arbeitserprobungen die geplante Ausbildung immer weiter verzögern? Ohne die Bereitschaft und Öffnung der Betriebe wird es keinen inklusiven Ausbildungs- und Arbeitsmarkt geben.

Eine andere Frage, die mich beschäftigt, sind die Jugendberufsagenturen. Sie sollen ausdrücklich auch jungen Menschen mit Behinderung offen stehen, außer, die Jugendlichen "brauchen besondere Hilfen", so erfuhr ich am Dienstag. Dann bleibt die Rehaberatung der Arbeitsagentur zuständig.

Und schließlich ist da noch die Initiative Inklusion, ein Arbeitsmarktprogramm des Bundes, das auch Anteile von Berufsorientierung für Schulabgänger mit Behinderung enthielt. Zum Schuljahresende 2016/17 beendet. Stattdessen sollen jetzt die Berliner Schulen selbst qualifiziert werden, Berufsorientierung für alle Schülerinnen und Schüler an allgemeinbildenden Schulen durchzuführen.

Ja, was denn nun? Für die einen externe Einrichtungen, für die anderen machen es mal eben die Lehrer mit?

Wieso ist es so schwierig, dass junge Menschen mit Behinderung am Übergang Schule - Berufsausbildung kompetente Unterstützung dort bekommen, wo sie sie benötigen? In der Schule, im betrieblichen Praktikum, in der betrieblichen Ausbildung? Wieso werden Prozessergebnisse wie die aus einer zweijährigen Berufsorientierung geringer bewertet als die Ergebnisse punktueller Gutachten?
Wieso haben Menschen auf dem ersten Ausbildungs- und Arbeitsmarkt nicht die gleichen Unterstützungsmöglichkeiten wie Menschen in außerbetrieblichen Einrichtungen?

Nur so kann Inklusion funktionieren und das lässt sich auch auf den gesamten Schulbereich übertragen - gleiche Angebote an Barrierefreiheit und Unterstützungsleistungen in allen Schulen und Berufsschulen, wenn sie benötigt werden. Nur so funktioniert Inklusion.

Gemeinsam mit Menschen ohne Behinderungen. Genauso wie Menschen ohne Behinderungen.

Denn das allein ist der Maßstab.

Lutherstatue

P. S. Als ich mich in dieser Woche mit Frau Prof. John über dieses Thema unterhielt, sagte sie: "Frau Pohl, da muss doch was getan werden. Machen Sie doch den Luther!" Einen schönen Reformationstag uns allen!

Sonntag, 2. April 2017

Wie inklusiv ist all inclusive?

Wenn ich Kindern das sperrige Wort Inklusion erklären will, benutze ich manchmal das Beispiel einer Pauschalreise - "all inclusive". Aber jetzt bin ich da um eine Erfahrung reicher.




Zunächst: Pauschalreisen sehen nur in der Werbung einfach zu buchen aus. Es gibt nirgendwo ein Kreuz, dass man machen kann, weil man einen Rollstuhl nutzt (das geht beim Kino übrigens auch nicht) und so ist es nie mit drei Klicks getan, sondern erfordert noch mindestens einen zusätzlichen Anruf beim Hotel wegen des (fast) barrierefreien Zimmers, bei der Fluglinie wegen der Assistenz beim Ein- und Aussteigen und beim Reiseveranstalter wegen des Transfers zum Hotel.

Aber von vorn:

Die eine Pauschalreise war eine ganz spontane über Silvester nach Tunesien und hatte ganz private Gründe und die zweite - nicht mehr ganz so spontane und auch ins nördlichste Land Afrikas - eigentlich auch. Und weil "spontan" und Rollstuhl zwei Dinge sind, die nicht so recht zusammenpassen wollen, hörte ich dann auch gleich von der Fluggesellschaft:

"Sie hätten sich doch Tage vorher anmelden müssen."

Es hat dann beim Einsteigen doch noch alles geklappt, auch wenn ich "nur" 24 Stunden vorher Bescheid gegeben hatte, dass ich einen Rollstuhl nutze.

Beim Aussteigen war das ein bisschen anders. Mal abgesehen davon, dass Anschnallen sowohl auf dem Sitz beim Verlassen des Flugzeugs als auch in Taxis in Tunesien "überbewertet" wird, irritierte mich die Antwort auf die Frage, wo denn mein Rollstuhl sei, doch etwas. Normalerweise steht mein Rollstuhl am Ende des Flugzeugs, diesmal aber nicht und ich verstand etwas, was sich wie "Gepäckband" anhörte. Nun sah ich meinen Rollstuhl schon auf dem Gepäckband umherfahren, aber er stand einfach neben dem Gepäckband. Erleichtert...

Es ist jedenfalls ein mulmiges Gefühl, unangeschnallt und ohne Greifreifen oder Bremsen durch die Kontrollen gefahren zu werden.

Beim Transfer ins Hotel dann das nächste Stirnrunzeln: es ist kein rollstuhlgerechtes Transportmittel vorhanden, der Kleinbus ist zu hoch zum Einsteigen - "Ich dachte, Sie könnten noch ein paar Schritte gehen." Also nehme ich mir ein normales Taxi, auf meine Kosten. Bis zur Rückreise eine Woche später kann der Reiseveranstalter übrigens auch keinen rollstuhlgerechten Transfer sicherstellen. Also wieder ein Taxi, auf meine Kosten.

Ein paar Monate später, anderer Reiseveranstalter, anderer Flughafen. (Wir haben ja zwei in Berlin.) Am Flughafen angekommen: "Hier ist kein Rollstuhl angemeldet."
"Ich hab sowohl beim Reiseveranstalter als auch bei der Fluglinie rechtzeitig Bescheid gegeben."
"Machen Sie sich nichts draus, das passiert öfter."
Sollte man dann nicht mal die internen Abläufe überprüfen?

Ich komme dann doch noch ins Flugzeug und der Flug verläuft ohne Probleme. Diesmal hatte ich die Sache mit dem Taxi beim Reiseveranstalter extra angesprochen und so überraschte es mich umso mehr, als mir der Reiseveranstalter vor Ort wieder den gleichen zu hohen Kleinbus anbot wie ein paar Monate zuvor.

Also taucht Rajid auf, Taxifahrer, der hat ein Auto, in das ich einsteigen kann. Ich schnalle mich an und bin zu müde, um über den horrenden Taxipreis zu verhandeln. Etwas munterer werde ich nur durch seine Unterhaltung - in Teilen in arabisch, französisch, englisch und deutsch - und durch ein ständiges Piepen und eine ständig blinkende rote Leuchte. "Auto muss in Garage (französischer Akzent), aber geht noch." ;)

Am Urlaubsort - Blick aufs Mittelmeer
Bei der Rückreise ist erneut kein passendes Fahrzeug da und ich ordere erneut Rajid, diesmal ohne Warnsignale im Auto. ;)

Beim Einsteigen ins Flugzeug sind die gehbehinderten Fluggäste zwar nicht die ersten (wie üblich), sondern die letzten, aber egal.

Nach dem 3-stündigen Flug Ankunft in Schönefeld. Zuerst kommt eine Servicekraft (die zweite ist zunächst nicht verfügbar), um mich aus dem Flugzeug hinauszubegleiten. "Können Sie ein paar Schritte laufen?" "Nein." (Ich bin immer noch freundlich.) Nachdem dann doch die zweite Servicekraft da ist, stecke ich (zusammen mit einem anderen gehbehinderten Fahrgast) für 45 Minuten im Niemandsland fest, weil es keinen Sicherheitsbeamten gibt, der gerade verfügbar und berechtigt ist, uns dort hinaus zu begleiten.

Deshalb zum Schluss meine Frage: Eignen sich All-inclusive-Reisen tatsächlich zur Inklusion oder sollte ich mir lieber ein anderes Beispiel einfallen lassen?
Und viel wichtiger: Wie müssen sich interne Abläufe in Flughäfen und bei Reiseveranstaltern ändern, damit auch Urlauber mit Behinderungen möglichst unkompliziert die gleichen Angebote nutzen können wie andere Fahrgäste auch?

P.S. Nachdem mich Raul Krauthausen in seine Linkliste der lesenswerten Seiten im Netz zum Thema Behinderung aufgenommen hat, hat mir das einen Dreh mit dem MDR eingebracht. Tausend Dank, lieber Raul!

"Heute Nachmittag Café Klostertor?"

Liebe Leserinnen und Leser, "Heute Nachmittag Café Klostertor?", war die Reaktion meiner Schulleitung, als ich ihr in dieser Woche...