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Vom Mut nachzufragen - gute Vorsätze für 2020

Heute will ich nach langer Zeit wieder zu einem Thema posten, das mir sehr am Herzen liegt.

Immer wieder stelle ich mir die Frage, warum es mit der Inklusion hier in Deutschland so schleppend vorangeht.

Ein Teil der Antwort ist: Weil dafür die Grundlagen fehlen.

Nehmen wir dazu das Beispiel der Schulsozialarbeit:

In § 13 des Achten Sozialgesetzbuchs heißt es: "Jungen Menschen, die zum Ausgleich sozialer Benachteiligungen oder zur Überwindung individueller Beeinträchtigungen in erhöhtem Maße auf Unterstützung angewiesen sind, sollen im Rahmen der Jugendhilfe sozialpädagogische Hilfen angeboten werden, die ihre schulische und berufliche Ausbildung, Eingliederung in die Arbeitswelt und ihre soziale Integration fördern."

Das ist Integration. Ein Mensch hat eine Beeinträchtigung, ihm muss geholfen werden, damit er sich in die Gemeinschaft integrieren kann. Keine Sozialraumorientierung, keine Umweltfaktoren, die geändert werden müssen, kein Angebot für Gemeinschaften. Das ist Integration und wird nicht einfach dadurch inklusiv, weil ich es inklusiv nenne (oder in dem Falle ein Landesamt für Schule und Bildung).

In meiner täglichen Arbeit als Schulsozialarbeiterin, die mir viel Spaß macht, versuche ich (und zum Glück nicht nur ich) einen anderen Ansatz. Viele Angebote im sozialen Lernen beginnen mit Angeboten für eine Gruppe oder Schulklasse. Wir vermeiden damit Stigmatisierungen und stecken viel mehr Aufmerksamkeit in den Umgang miteinander als in persönliche Beeinträchtigungen. Und wir haben damit Erfolg.

Beispiel Arbeitsmarkt:

Im Artikel von Anne Gersdorff (die tatsächlich mal eine meiner Schülerinnen war) in der "PC-Welt" Arbeitsmarkt: Das Problem mit den Behindertenwerkstätten sind auch Antworten auf die Frage beschrieben, warum es mit der Inklusion in diesem Bereich so wenig vorankommt:

Anne Gersdorff fasst zusammen: "Der Weg in eine Werkstatt ist somit ziemlich einfach, fast alternativlos und oft nicht freiwillig."

Das sehe ich ebenso: Auch hier fehlen grundlegende Anreize für die Beschäftigung schwerbehinderter Menschen auf dem ersten Arbeitsmarkt. Ein solcher falscher Anreiz ist z. B., dass diejenigen Unternehmen, die keinen Arbeitnehmer mit Schwerbehinderung in ihrem eigenen Betrieb beschäftigen und stattdessen Aufträge an Werkstätten für behinderte Menschen erteilen, die Hälfte des Rechnungsbetrages von ihrer Ausgleichsabgabe abziehen können. Keinen Menschen mit Behinderung beschäftigen und dafür einen finanziellen Vorteil erhalten - da wird doch der Sinn und Zweck der Ausgleichsabgabe völlig verkehrt?!

Zweiter Teil der Antwort auf die Frage, warum Inklusion so schleppend voran geht, ist also: weil die falschen Anreize gesetzt werden.


Ein Projekt zur Inklusion am Arbeitsmarkt


Und eine dritte Antwort will ich noch geben:

Inklusion geht deshalb so schleppend voran, weil Informationen (bewusst) falsch gegeben werden und Inklusion (von einigen) politisch nicht gewollt ist.

Ich begründe das: Sachsen gilt ja als führend im deutschen Bildungssystem, ich habe dazu eine differenzierte Meinung. Vor kurzem schrieb ich einen Brief an den sächsischen Lehrerverband, der einen Artikel zum Thema Inklusion mit Erwartungen an die neue Landesregierung verfasst hatte:

  • "Ich kann mir vorstellen, was Sie meinen, wenn Sie schreiben „Sie (die UN-Behindertenrechtskonvention) kann nur schrittweise und im Zusammenwirken mit Schülern, Eltern, Lehrern, Schulträgern und dem weiteren gesellschaftlichen Umfeld erfüllt werden.“ Dennoch weise ich darauf hin, dass das Deutsche Institut für Menschenrechte, das als unabhängige Monitoringstelle die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention überwacht, zum 10-jährigen Bestehen der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Deutschland zu dem Schluss kommt: „Es muss im Wesentlichen darum gehen, einer Stagnation oder gar Umkehr der Inklusionsdynamik entgegenzuwirken… Wie der vorliegende Bericht zeigt, ist in den Bereichen Wohnen und Arbeit aller Inklusionsrhetorik und allen Bemühungen zum Trotz im Bundesdurchschnitt keine deutliche Abnahme von Exklusion zu verzeichnen – bei großen regionalen Unterschieden. 2017 lebten im Bundesdurchschnitt mehr Menschen mit Behinderungen in stationären Wohneinrichtungen als 2009, auch die Zahl der Werkstattbeschäftigten hat sich stetig erhöht. Das ist besorgniserregend und steht im klaren Widerspruch zur Zielsetzung der UN-BRK. Im Bildungsbereich ist die sogenannte Exklusionsquote, die den Anteil der Schüler_innen außerhalb des allgemeinen Schulsystems erfasst, im Bundesdurchschnitt nicht nennenswert gesunken und in drei Bundesländern sogar gestiegen. Die Förderung von Schüler_innen mit Förderbedarf findet also fast unvermindert in Sondereinrichtungen statt. Auch das ist mit der UN-BRK nicht in Einklang zu bringen.“ (Quelle: Deutsches Institut für Menschenrechte 2019)
  • Besonders in Sachsen sehe ich hier Handlungsbedarf: die Exklusionsquote von 5,72% im Schuljahr 2016/2017 wird nur noch von zwei anderen Bundesländern übertroffen, in allen anderen Bundesländern ist sie niedriger. (Quelle: Aktion Mensch) Diese hohe Exklusionsquote in Sachsen setzt sich übrigens auch auf dem Arbeitsmarkt fort: Mit einer Beschäftigungsquote schwerbehinderter Menschen von 4,1% auf dem ersten Arbeitsmarkt liegt Sachsen noch unter dem Bundesdurchschnitt (Quelle: Bundesagentur für Arbeit 2019).
  • Sie schreiben weiterhin, dass sich das Elternwahlrecht, zwischen Förderschule und inklusiver Schule zu wählen, aus Artikel 7 der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ableite. Dem kann ich nicht zustimmen. Im Artikel 7 ist lediglich von dem Recht auf gleichberechtigten Genuss aller Grundfreiheiten und Menschenrechte und dem Recht auf behinderungs- und altersgerechter Partizipation die Rede. (Quelle: Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen) Zu dieser Auffassung kommt auch der Bildungsforscher Hans Wocken in seinem Beitrag „Inklusive Missverständnisse“: „Es ist durchaus legitim, weiterhin für ein Elternwahlrecht einzutreten, aber es ist unstatthaft und falsch, sich zur Begründung des Elternwahlrechts auf die Behindertenrechtskonvention zu berufen. Wer auch immer Sonderschulen wünscht und legitimieren will, möge andere Wege beschreiten als sich ausgerechnet auf die Behindertenrechtskonvention zu beziehen, die eindeutig und ohne allen Zweifel das Recht behinderter Kinder auf Inklusion als ihr persönliches Recht favorisiert und die Eltern verpflichtet, dieses Recht der Kinder treuhänderisch wahrzunehmen.“ 
Zum Jahresende 2019 will ich besonders auf die Empfehlungen von Anne Gersdorff verweisen, die Ihnen zeigen, dass auch Sie etwas tun können:
  •  Schaffen Sie Räume der Begegnung. Sprechen Sie mit Menschen mit Beeinträchtigungen, nicht über sie.
  • Wenn Ihre Firma in Werkstätten für behinderte Menschen produzieren lässt, fragen Sie nach den Arbeitsbedingungen.
  • Viele Betriebe bieten - dankenswerterweise - Praktikumsplätze für Jugendliche an. Wieso nicht einmal für Jugendliche mit Behinderungen?
Eine Elterninitiative, die gleichzeitig zeigt, wie notwendig diese Plätze auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sind und beweist, dass es geht und eine Win-win-Situation für alle Seiten sein kann, ist Statt Werkstatt - unbedingte Leseempfehlung!

Menschen mit so genannter geistiger Behinderung wehren sich.


Mein Weihnachts- und Neujahrswunsch an Sie, liebe Leserinnen und Leser, ist:

So, wie Sie als Kundinnen und Kunden sich bewusst für oder gegen bestimmte Einkäufe im Sinne des Tierschutzes oder der Nachhaltigkeit oder der Region entscheiden, können Sie auch entscheiden, welche Hilfesysteme Sie unterstützen wollen und welche nicht. Trauen Sie sich und fragen Sie nach!

Hier als Beispiel mein Schreiben an eine Firma, die Materialien zur Medienkompetenz entwickelt und vertreibt:


"Sehr geehrte Damen und Herren,

herzlichen Dank für die Übersendung der Unterlagen zur Vermittlung von Medienkompetenz an Schülerinnen und Schüler.

Beim Auspacken las ich den Hinweis, dass der Materialversand künftig über die NRD Werkstätten mit dem Projekt „Service inklusiv mobil vor Ort“ erfolge.

Dieser Projektname ist meines Erachtens irreführend, da es sich hier keinesfalls um inklusives  Arbeiten handelt, sondern um Aufträge an eine Werkstatt für behinderte Menschen. Damit reduziert sich Ihre Ausgleichsabgabe, die Sie für nicht besetzte Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Mitarbeitern zahlen müssten. Und Sie unterstützen damit ein System, das nicht mehr zeitgemäß ist und den Anforderungen der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) nicht entspricht.

Warum? „Wir konstatieren, dass Werkstätten per se nicht inklusiv sind, weil sie nicht den ersten Arbeitsmarkt darstellen und weil in ihnen fast ausschließlich Menschen mit Behinderungen beschäftigt sind. Wir teilen die Einschätzung der internationalen Expertenkommission, dass Werkstätten für behinderte Menschen eine Sonderwelt darstellen, für die mit der Ratifizierung der UN-BRK in Deutschland Maßnahmen zum „Einstieg in den Ausstieg" einzuleiten sind. Ein aussondernder Arbeitsmarkt wird nicht dadurch inklusiv, dass man parallel dazu einen zweiten für die Ausgesonderten betreibt.“ Ausführlich nachzulesen im Offenen Brief der Initiative Inklusion an die Bundesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten für behinderte Menschen.

Ich würde mich freuen, wenn Sie in Zukunft diese Zusammenarbeit überdenken und sich auch im Sinne moderner Medienkompetenz für eine Zusammenarbeit mit moderneren Unterstützungsangeboten entscheiden würden, z. B. mit der Bundesarbeitsgemeinschaft Unterstützte Beschäftigung oder der Bundesarbeitsgemeinschaft der Inklusionsfirmen.


Freundliche Grüße

Ulrike Pohl"

Mir ist klar, dass ich allein mit zwei solcher Rückmeldungen nicht die Welt verändern werde, aber wenn viele Menschen diese Fragen stellen, dann ändert sich etwas.







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