Raúl Krauthausen hat gestern einen Beitrag für das Inklusionsblog der Aktion Mensch geschrieben.
Da mein Kommentar nicht ins Kommentarfeld auf dem Inklusionsblog passt, schicke ich hier meine Gedanken dazu an Raúl und auch an alle anderen Leserinnen und Leser meines Blogs:
Lieber Raúl,
ich lese die meisten deiner Beiträge und schätze dich für
viele Dinge, die du in der Öffentlichkeit tust.
Und da ich weiß, dass du auch ab und an mein Blog liest,
kennst du mich als Streiterin mit Herzblut für Inklusion.
Doch dieser Blogeintrag ist mir wirklich zu undifferenziert,
besonders in den Absätzen, in denen es um den Einfluss des Besuchs von
"Sonderschulen" - die in Berlin Förderzentren heißen - auf den
vermeintlichen Erfolg im Leben geht.
Ich versuche das zu erklären: Wenn Eltern behinderter Kinder
in den 70-er und 80-er Jahren (in dem jeweiligen Gesellschaftssystem) für ihr
Kind die Wahl hatten zwischen (Kranken-)Hausunterricht und dem gemeinsamen
Lernen mit anderen behinderten Kindern in einem Internat, dann haben sie unter
den damaligen Möglichkeiten die bestmögliche Entscheidung getroffen, wenn sie
sich für das gemeinsame Lernen mit behinderten Kindern entschieden haben.
Und einige dieser ehemaligen „Sonderschüler“ haben ein
Abitur abgelegt, andere nicht – das ist für mich kein Indiz für Erfolg oder
Misserfolg im Leben.
- Manchmal ist es der Behinderung selbst geschuldet (Menschen mit Lernschwierigkeiten, die einen großen Teil der Schüler mit Förderbedarf ausmachen, machen seltener Abitur),
- manchmal dem Schulsystem (z. B. weil es in Deutschland keine Möglichkeit gab und gibt, in Gebärdensprache Abitur zu machen)
- und manchmal, weil jemand dazu keine Lust hatte.
Einige dieser Menschen mit Exklusionserfahrung arbeiten
heute als Pädagogen, Psychologen, Mathematiker, Juristen, Betriebswirte, in öffentlichen Verwaltungen und
privaten Unternehmen (und Frauen tun dies auch). Einige haben sich berenten
lassen – manche wegen des zunehmenden Drucks auf dem Arbeitsmarkt, manche wegen
einer fortschreitenden Erkrankung. Einige konnten und können keine Berufsausbildung absolvieren, weil sie keine Berufsbildungsreife erlangen (das liegt am jeweiligen Lehrplan und Schulabschluss und nicht an der Schulform).
Und es waren und sind
gerade diese Menschen mit
Exklusionserfahrung, die sich seit den 60-er Jahren überall in der Welt
für Teilhabe einsetzen und eingesetzt haben und für Selbstbestimmung gestritten
haben und noch streiten.
So wertvoll deine Aktivitäten und die der anderen jüngeren
behinderten Menschen auch sein mögen – ohne den Einsatz aller Mitstreiter für
Inklusion in den letzten 4 oder 5 Jahrzehnten wären wir alle heute nicht so
weit, wie wir jetzt sind – so mangelhaft dieses Sozialsystem auch sein mag.
Ich wünsche uns allen weiterhin viel Kraft auf dem eigenen und
gemeinsamen Weg!
Ulrike
Ich muss Raul recht geben. Was Du, Ulrike, von der Generation der heute 50-70jährigen erfolgreichen Behinderten schreibst – nämlich dass sie ihren Weg gemacht haben, obwohl sie nicht inklusiv beschult wurden, hat doch damit zu tun, das zu dieser Zeit die schulischen Sortiermaschinen anders aufgestellt waren. Fast jeder mit einer halbwegs schweren Behinderung wurde exkludiert. Im Osten hieß das Sonderschule.
AntwortenLöschenHeute kommen die Tüchtigen gleich auf eine Integrationsschule, während die Schulen mit Förderbedarf sich um den Rest kümmern dürfen. Der Weg in eine Werkstatt ist dann meist schon vorgezeichnet – und dieser Weg ist (rein statistisch) der sicherste Weg, nie auf dem ersten Arbeitsmarkt anzukommen. Wahrscheinlich hat man dafür mehr Chancen, wenn man in der Sonne sitzt und darauf wartet, angesprochen zu werden, ob man nicht einen attraktiven Job möchte.
Argumente, die gegen eine inklusive Schule sprechen, sind Argumente die daraus erwachsen, dass unser Schulsystem an sich brutal leistungsorientiert und die Persönlichkeit und Erfordernisse des einzelnen Schülers ignorierend ist. Mit insgesamt kleineren Klassen, also auch mehr Lehrern, sowie flexibleren Lehrstoffen und Schulhelfern wäre schon viel getan. Dann ist Inklusion auch für die nichtbehinderten Schüler ein Zuwachs an Qualität des Lernens. Ob man für Gehörlose, Blinde und Menschen mit ganz massiven mentalen Einschränkungen nicht doch noch Extraschulen mit entsprechenden Fördererschwerpunkten braucht, ist offen, bzw. wahrscheinlich. Aber die jetzige Situation ist alles andere als inklusiv – und damit ungerecht und diskriminierend.
Abschaffung der Sonderbeschulung ist genau die richtige Forderung. Natürlich nur, wenn es eine Umstellung der Lehrstruktur gibt. Aber auch ohne diese Umstellung wäre es sinnvoll. Die behinderten Schüler, die jetzt eine Schule mit Förderschwerpunkt besuchen, hätten es im kalten Wasser des normalen Schulbetriebs sicher nicht einfach. Aber einfach haben sie es auch nicht in den Gettosschulen, spricht "Schule mit Förderschwerpunkt". Da geht es schließlich ähnlich brutal zu.